|  |  | Wolfgang Sterneck:
 
 DIE VERDRÄNGTE WIRKLICHKEIT
 - DIE INDUSTRIAL CULTURE -
 
 - Antonin Artaud und die Verdrängung -
 - Bewusstsein und Information -
 - Kunst und Aktion -
 - Throbbing Gristle und die Todeskultur -
 - S.P.K. und die psychische Veränderung -
 - Adolf Wölfli und die Musique Brut -
 - Rückschritt und Entwicklung -
 
 Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich tabuisierten Themen 
							wie Perversion, Gewalt und Tod gehörte zu den wesentlichen 
							Merkmalen der Industrial Culture, die Ende der siebziger Jahre als 
							avantgardistische Strömung gezielt vorgegebene künstlerische 
							Grenzen durchbrach. Die Darstellung einer verdrängten Wirklichkeit 
							wurde als Teil einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen wie 
							auch mit inneren psychischen Strukturen verstanden, die sich letztlich 
							gegen die systemtragenden Mechanismen der medialen Manipulation 
							von Bewusstsein und Bedürfnissen richtete.
 
 ANTONIN ARTAUD UND DIE VERDRÄNGUNG
 
 Die Bands der Industrial Culture arbeiteten im Rahmen ihrer Musik 
							und Bühnenshows, wie auch in ihren Texten und Erklärungen 
							durchgängig mit gezielt provokativen und schockierenden Elementen. 
							Dabei ließen die MusikerInnen kaum ein Tabu aus, das Spektrum 
							reichte von psychischen Abnormalitäten, Folterszenen, Sezierungen 
							von Leichen, Hinrichtungen und Serienmorden bis zu extremen Sexualpraktiken, 
							körperlichen Modifikationen und Tierversuchen. Auch wenn die 
							Mittel in ihrerer Radikalität eine neue Etappe bildeten, so 
							lassen sich konzeptionell Parallelen zu einer Reihe von experimentellen 
							Strömungen des 20. Jahrhunderts erkennen.
 
 Auffallend sind vor allem die inhaltlichen Überschneidungen 
							zu dem von Antonin Artaud entwickelten Théâtre de la 
							cruauté, dem Theater der Grausamkeit. Artaud zufolge kann 
							das Theater erst dann wieder es selbst werden, wenn es dem 
							Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, 
							in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, 
							seine Wildheit, seine Trugbilder, sein utopischer Sinn für 
							das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht 
							bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene 
							Luft machen. Das Theater muss durch alle Mittel ein Infragestellen 
							nicht nur aller Aspekte der objektiven Außenwelt, sondern 
							auch der inneren Welt erstreben.(1) Es bedarf nur eines 
							Austausches des Begriffs des Theaters mit dem der Musik und die 
							Ausführungen entsprächen einer charakteristischen Beschreibung 
							des Selbstverständnisses einer Industrialband.
 
 Im Rahmen seines wegweisenden programmatischen Manifests über 
							die Aufgaben des zeitgenössischen Theaters äußerte 
							sich Artaud auch konkret zu seinen Vorstellungen einer entsprechenden 
							Musik: Außerdem regt die Notwendigkeit, durch die Organe 
							direkt und nachhaltig auf die Sensibilität einzuwirken vom 
							klanglichen Gesichtspunkt aus zur Suche nach völlig ungewohnten 
							Klangeigenschaften und Klangschwingungen an, nach Eigenschaften, 
							die den jetzigen Musikinstrumenten abgehen und die zum Rückgriff 
							auf alte, vergessene oder zur Erschaffung neuer Instrumente zwingen. 
							Sie zwingen auch dazu, außerhalb der Musik nach Instrumenten 
							und Geräten zu suchen, die neuen Umfang der Oktave erzielen, 
							sowie unerträgliche Klänge oder Geräusche hervorbringen 
							könnten, die einen verrückt machen.(2)
 
 BEWUSSTSEIN UND INFORMATION
 
 Wie bei Artauds Théâtre de la cruauté gehörte 
							auch innerhalb der Industrial Culture die Suche nach neuen Ausdrucksformen 
							zur prägenden Grundlage. Ausgang war dabei das Ziel einer Wiederbelebung 
							unterdrückter und verdrängter Empfindungen bzw. die unterschwellig 
							unablässig gegebene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. 
							Wegweisenden Projekten wie Throbbing Gristle, S.P.K. und Cabaret 
							Voltaire war gemeinsam, dass gräßliche, entsetzliche, 
							wahnhafte und ungerechte Dinge aus einem Blickwinkel des schwarzen 
							Humors angegangen werden und die Werte, Normen und Inhalte von einer 
							perversen, anarchischen Natur ausgehen, die auf einer Post-Holocaust-Moral 
							basiert.(3) Ihrem Verständnis zufolge sind die Darstellungen 
							von Gewalt, Zerstörung und Tod längst in Nachrichtensendungen 
							genauso wie in Spielfilmen als Instrumente einer scheinbar allgegenwärtigen 
							Bewusstseinsindustrie zu einer Normalität geworden, die bei 
							regelmäßiger Betrachtung kaum noch eine Gefühlsregung 
							bewirkt. Durch die ständige und oftmals völlig unreflektierte 
							mediale Darstellung erscheint Gewalt verfremdet und wird in ihrer 
							Negativität nicht mehr nachvollzogen, wie auch die gesellschaftlichen 
							Ursachen kaum in Frage gestellt und angegangen werden. Die Industrial 
							Culture versuchte diesen Zustand der Verdrängung aufzubrechen, 
							indem sie aus den Rahmen der ansonsten tolerierten Formen der Darstellung 
							heraustrat. Was wir tun, ist Gewalt wieder in ihrem eigenen 
							Kontext zu zeigen. Mit all ihren Schrecken. Dann wird es ungemütlich. 
							Sie ist nicht mehr etwas, über das man sich nebenbei bei einer 
							Tasse Kaffee unterhalten kann.(4)
 
 Gezielt wurden bei den entsprechenden Auftritten und Veröffentlichungen 
							die Grenzen des vorgeblich guten Geschmacks immer wieder überschritten. 
							Im Grunde ist jedoch nicht die Aufführung von Filmen, die Gewalt 
							und Zerstörung uneingeschränkt zeigen, geschmacklos, sondern 
							die Tatsache, dass diese Erscheinungen in den verschiedensten Formen 
							ein zwangsläufiges Produkt der bestehenden Gesellschaftsordnung 
							sind und diese Tatsache gezielt verdrängt wird. Letztlich gibt 
							es keine Begrifflichkeit, die beispielsweise das Verhältnis 
							zwischen einem Werbespot für Hundefutter und verhungernden 
							Kindern in den ausgebeuteten Ländern der sogenannten Dritten 
							Welt ausdrückt. Kein Film und kein Musikstück kann dabei 
							geschmackloser sein als die alltägliche Realität.
 
 Auch wenn die vorrangige Ausdrucksform der Industrial Culture eine 
							musikalische war, so verwiesen insbesondere die Mitglieder von Throbbing 
							Gristle auf den übergreifenden Kontext ihrer Veröffentlichungen 
							und Konzerte: Wir sind nicht an der Musik als solcher interessiert, 
							wir interessieren uns für Informationen. Die Macht über 
							diese Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang 
							zur größtmöglichen Information haben und diese Information 
							kontrollieren. All die Paranoia, die durch Politik ausgelöst 
							wird, resultiert fast ausschließlich aus der Frage, was denn 
							nun wirklich abläuft, was geheim bleibt, worüber man uns 
							nichts sagt...(5)
 
 Der innerhalb der Industrial Culture angestrebte Prozess der Überwindung 
							von verinnerlichten repressiven Strukturen als Teil eines Krieges 
							um Information(6), der letztlich die Frage nach der Kontrolle 
							von Bewusstsein und Bedürfnissen einschließt, läßt 
							sich dabei in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase ist bestimmt 
							von Elementen der Konfrontation, wobei entsprechende Texte, Sounds, 
							Motive und Filme gezielt provozierend und schockierend eingesetzt 
							werden. Sie erhalten dadurch den Charakter einer unterdrückten 
							Information, die nun zugänglich gemacht wird. Dabei steht jedoch 
							nicht nur die Verbreitung des Inhalts dieser Information im Vordergrund, 
							sondern insbesondere der weitgehend abgestumpfte Mechanismus der 
							Wahrnehmung. Diese Abstumpfung soll über eine direkte, besonders 
							extreme Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit in all 
							ihren grausamen, ekelerregenden und unmenschlichen, aber gleichermaßen 
							alltäglichen Auswüchsen emotional aufgebrochen werden. 
							Dieser Aufbruch von Mustern des Denkens und Fühlens markiert 
							die zweite Phase. Das Aufzeigen von zuvor nicht wahrgenommenen Aspekten 
							der Realität führt dabei zu einer Dekodierung des gesellschaftlich 
							vorgegebenen manipulierten Bildes der Wirklichkeit. Darin wiederum 
							wurzelt eine befreiende Veränderung des Bewusstseins als dritte 
							und abschließende Phase dieses Prozeßes als Grundlage 
							einer weiterführenden individuellen Entwicklung bzw. als eine 
							Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung.
 
 KUNST UND AKTION
 
 Schon innerhalb der Performance-Kultur wurde in den späten 
							sechziger Jahren bei vielen KünstlerInnen eine Tendenz zur 
							Auseinandersetzungen mit extremen Ausdrucksformen deutlich verstärkt 
							sichtbar. Die Performance als theatralisch-symbolhafte Kunstform 
							hatte sich aus dem von John Cage inspirierten Happening entwickelt, 
							war aber stärker inhaltlich ausgerichtet und verzichtete auf 
							die Einbeziehung des Publikums. Zu den provozierensten Performance-Projekten 
							gehörte die 1969 in London gegründete Gruppe Coum Transmissions 
							zu der Cosey Fanni Tutti, Genesis P-Orridge und später auch 
							Peter Sleazy Christopherson gehörten. Die Vorführungen 
							der Gruppe waren gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit 
							den Möglichkeiten der Selbstvermarktung im Rahmen gezielt schockierender 
							Aktionen wie auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen inneren 
							Grenzen. Wir erforschten unsere eigenen Neurosen und stellten 
							sie in der Öffentlichkeit dar.(7)
 
 So verspritzten während einer beispielhaften Performance in 
							einer Kunstgalerie in New York die nackt auftretenden P-Orridge 
							und Tutti ein Gemisch aus Blut, Milch und Urin im Raum, um es danach 
							vom Betonboden wieder aufzulecken. Auch das in Folge Erbrochene 
							nahmen beide wieder zu sich. Bei einem anderen Auftritt wurden Musikstücke 
							von Charles Manson abgespielt, die von cut-up-artigen Geräuschcollagen 
							unterbrochen wurden. P-Orridge war an ein Kreuz gebunden und wurde 
							ausgepeitscht. Tutti steckte sich währenddessen eine brennende 
							Kerze in die Vagina. Später bespuckten sich die Coum Mitglieder 
							und leckten sich dann gegenseitig den Körper und dabei insbesondere 
							die Genitalien ab.
 
 Die Aufführungen von Coum standen in der Tradition des Wiener 
							Aktionismus, dessen Vertreter im Laufe der sechziger Jahren durch 
							ihre Aktionen und Manifeste die gesellschaftlichen Normen und speziell 
							die sexuellen und religiösen Tabus aufbrechen wollten. Darüber 
							hinaus sollten über eine Freisetzung unterdrückter Gefühle 
							neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden. Als eine 
							bewusst mit extremen Ausdrucksformen arbeitende Randerscheinung 
							der Kunstszene wurde der Wiener Aktionismus in den sechziger Jahre 
							vehement angegriffen. Inzwischen ist er jedoch längst als anerkannte 
							Strömung in den Museen moderner Kunst vertreten. Otto Mühl, 
							einer der bekanntesten Vertreter des Wiener Aktionismus, löste 
							sich Anfang der siebziger Jahre von der Kunstszene und versuchte 
							im Rahmen der von ihm gegründeten AA-Kommune verschiedene Vorstellungen 
							eines befreiten Lebens bzw. eine wirkliche Einheit zwischen Kunst 
							und Leben zu verwirklichen. Wir leben hier in einem Kunstwerk, 
							das sich von aller bisherigen Kunst dadurch unterscheidet, dass 
							es eine wirklich revolutionäre Kunst ist, denn diese Kunst 
							lebt tatsächlich. Es ist das erste lebende Kunstwerk der Welt 
							überhaupt.(8) Die Kommune scheiterte aber letztlich 
							insbesondere an der patriarchalen Führungsrolle Mühls, 
							die entgegen der theoretischen Ansprüche unangetastet blieb.
 
 THROBBING GRISTLE UND DIE TODESKULTUR
 
 Throbbing Gristle entstand als ein Nachfolgeprojekt von Coum Transmissions. 
							Erstmals trat die Gruppe um Genesis P-Orridge zur Eröffnung 
							einer Ausstellung im Institute of Contemporary Arts in London auf, 
							die unter dem Titel Prostitution die Geschichte Coums 
							zusammenfaßte. Da es der Gruppe im Vorfeld gelungen war, die 
							Ausstellung als experimentelles Kulturprojekt staatlich fördern 
							zu lassen, griff in Folge insbesondere die Boulevardpresse und einige 
							konservative PolitikerInnen die angebliche Subvention von Obszönitäten 
							scharf an. Ganz im Sinne von Throbbing Gristle wurde dadurch ein 
							kontroverses Image etabliert und gleichzeitig die die Popularität 
							der Gruppe zu gesteigert. Die KünstlerInnen erweiterten die 
							Ausstellung fast täglich indem sie die neu erschienenen Artikel 
							einbezogen.
 
 Ein wesentlicher Faktor für das große öffentliche 
							Interesse war die Tätigkeit des Throbbing-Gristle-Mitglieds 
							Cosey Fanni Tutti als Modell für pornographische Zeitschriften 
							und die Ausstellung entsprechender Fotos. Deutlich zum Ausdruck 
							kam dabei einmal mehr die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen 
							Moralvorstellungen bzw. der wortführenden Medien, welche einerseits 
							die Nacktfotos aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Ausstellung 
							rissen und verurteilten, andererseits aber gleichzeitig beständig 
							frauenverachtende Berichte, Anzeigen und Fotos veröffentlichen. 
							Tutti setzte sich selbst mehrfach in unterschiedlicher Form mit 
							der Pornoindustrie, den damit verbundenen Zusammenhängen und 
							ihrer eigenen Person auseinander. Unter anderem zeigte sie in einer 
							Ausstellung selbstaufgenommene Fotos auf denen sie leichtbekleidet 
							oder nackt zu sehen war. Während in den Pornozeitschriften 
							die Frau zum Objekt gemacht wird und sich ihre Darstellung nach 
							den Bedürfnissen der männlichen Käufer richtet, bestimmte 
							Tutti auf diesen Fotos selbst über ihre Haltung, ihre Tätigkeit 
							und ihren Ausdruck. Sie nahm sich dabei ihre Identität zurück 
							und wurde zum über sich selbst bestimmenden Subjekt.
 
 1976 gründeten Throbbing Gristle unter dem Motto Industrial 
							music for industrial people das Label Industrial Records, 
							welches musikalisch und inhaltlich wegweisend für die Industrial 
							Culture wurde. Bei der Betonung des Einflusses der Band wird jedoch 
							oft unterschlagen, dass eine musikalische Entwicklung immer eine 
							Folge der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen ist. So entsprach 
							auch die Industrial Culture einer Zeitströmung die in unterschiedlicher 
							Form einen Ausdruck fand. Charakteristisch für die Veröffentlichungen 
							der auf Industrial Records veröffentlichten Bands und insbesondere 
							für die frühen Aufnahmen von Throbbing Gristle waren elektronische, 
							verzerrte Grundrhythmen und Geräuschcollagen. Mehrfach wurden 
							dokumentarische Aufnahmen in den Stücken wiedergegeben. Als 
							erste Veröffentlichung von Throbbing Gristle erschien The 
							second annual report of Throbbing Gristle in einer Erstauflage 
							von 785 Stück. Die Aufnahmequalität der LP, die später 
							mehrfach wiederveröffentlicht wurde, war vergleichsweise schlecht, 
							bestärkte aber die betont bedrohliche Atmosphäre.
 
 Die Texte des Reports bezogen sich insbesondere auf das Verhältnis 
							von psychischen Abnormalitäten und Gewalt. So wurde beispielsweise 
							in Slug Bait die Originalaufnahme eines Gesprächs 
							zwischen einem Psychiater und einem jugendlichen Serienmörder 
							dokumentiert und mit Musik unterlegt. In einer anderen Version von 
							Slug Bait wurden die Beschreibungen des Ritualmords 
							an der Schauspielerin Sharon Tate und eines äußerst sadistischen 
							Überfalls auf ein Ehepaar in Rhodesien textlich miteinander 
							verbunden und verfremdet wiedergegeben. Slug bait. Cant 
							wait. I crawl up the grass to your window and then open your room 
							very slow. I walk into your bedroom. Then I look at you with your 
							seven months pregnant womb. Slug bait. Cant, cant wait. 
							I get your husband to your front bedroom. I cut his balls off with 
							my knife. I make him eat them right there. Slug bait. Cant 
							wait. I look at your heavy stomach. Its already moving a little 
							bit with your baby. I use the carving knife from your kitchen. I 
							start to perform the operation. You say: No, no dont do that! 
							I say: I dont give a cats whiskers. Slug bait. Cant 
							wait. I pull out your baby. I chew his hand off with my teeth. I 
							lick him clean. Its obscene. As you bleed to death I kill 
							it. Im just a wicked boy. Slug bait. Cant, cant 
							wait. (...).(9)
 
 Derartige Textpassagen von Throbbing Gristle wie auch ein zum Teil 
							unterschwelliger Zynismus wurzelten letztlich in einer Verzweiflung 
							gegenüber der scheinbaren Unfähigkeit der Menschen friedlich 
							zusammenzuleben. Deutlich zum Ausdruck kam diese Haltung in dem 
							Text von Can the world be as sad as it seems?, in dem 
							von einer Menschheit gesprochen wird, die sich durch Kriege und 
							Umweltzerstörungen einem selbstverschuldeten Untergang entgegenbewegt, 
							eine Rettung aber deshalb auch nicht verdient. Derartige Beschreibungen 
							ignorierten allerdings die veränderbaren systembedingten Zusammenhänge, 
							die zu derartigen Entwicklungen führen, wie auch viele andere 
							Texte oder die auf den Konzerten gezeigten Filme nur begrenzt direkt 
							Ursachen aufzeigten, sondern in ihrer eigentlichen gesellschaftskritischen 
							Aussage nur im Gesamtkontext der Industrial Culture zu verstehen 
							ist.
 
 Anfang der achtziger Jahre schlugen die Mitglieder von Throbbing 
							Gristle neue Wege ein. Cosey Fanni Tutti und Chris Carter veröffentlichten 
							unter dem Namen Chris & Cosey mehrere vergleichsweise eingängige 
							LPs, während sich P-Orridge auf das Projekt Psychic TV und 
							Peter Sleazy Christopherson später auf die Band Coil konzentrierte. 
							Unter der Bezeichnung Temple Ov Psychick Youth initiierte P-Orridge 
							auch einen mit Psychic TV verbundenen kulthaften Zusammenschluß 
							zu dessen essentiellen Zielen der Aufbau eines Netzwerkes gehörte, 
							welches sich dem eigenen Verständnis zufolge der Entmystifizierung 
							von Magie und der Verbreitung von Information widmet. Durch 
							den gemeinsamen Austausch bildete sich eine Grauzone zwischen den 
							Polaritäten in der sich für die Teilhabenden eine grenzüberschreitende 
							Wahrheit kristallisierte. Gradwandelnd fusionierten wir Vergangenheit 
							und Zukunft, Wildnis und Zivilisation, Spirit und Technologie, Magie 
							und Wissenschaft.(10)
 
 S.P.K. UND DIE PSYCHISCHE VERÄNDERUNG
 
 Zu den ersten Bands, deren Aufnahmen auf Industrial Records veröffentlicht 
							wurden, gehörte S.P.K. Die drei Buchstaben wurden in den ersten 
							Jahren mit fast jeder neuen Veröffentlichung einer anderen 
							Bedeutung zugeführt, so unter anderem zu Surgical Penis Klinik, 
							System Planning Korporation und Sozialistisches Patienten Kollektiv. 
							Bei den späteren Veröffentlichungen wurde dieses Verfahren 
							aufgegeben und nur noch SPK als Bandname beibehalten. Das Projekt 
							wurde 1979 in Sydney von Ne/H/iL, einem Patienten einer psychiatrischen 
							Anstalt, und Graeme Revell, einem in der Einrichtung arbeitenden 
							Betreuer, gegründet. Entsprechend war auch der Bereich psychischer 
							Veränderungen in den ersten Jahren das zentrale Thema der Veröffentlichungen. 
							Der Grundgedanke des Projektes ist es, die Bedeutung verschiedener 
							psychopathologischer Zustände, insbesondere Schizophrenie, 
							manisch-depressive Psychose, mentale Retardationen und Paranoia 
							aufzuzeigen. S.P.K. versucht eine Stimme derer zu sein, die zu einem 
							langsamen Verfall in den psychiatrischen Krankenhäusern verdammt 
							sind, ohne sie zu einem Unterhaltungsprodukt zu machen. Unsere Veröffentlichungen 
							sollen mentale Erfahrungen über den Vermittler Sound nachvollziehbar 
							machen.(11)
 
 Die musikalischen Ausdrucksformen basierten entsprechend auf einer 
							Verbindung von monotonen, elektronischen Rhythmen und Geräuschcollagen 
							in die verzerrte Stimmen und Schreie eingespielt wurden. Nach mehreren 
							Besetzungswechseln kam es in den achtziger Jahren zu einer Abkehr 
							von der ursprünglichen inhaltlichen Ausrichtung und zu einem 
							musikalischen Stilwechsel. Nachdem sich S.P.K. zeitweise dance-orientierten 
							Stilelementen zuwandte, kam es zu einer Öffnung gegenüber 
							musikalischen Einflüsse aus verschiedenen Kulturen und Epochen, 
							die zu mystisch anmutenden Stücken verbunden wurden.
 
 Die Bezeichnung Sozialistisches Patienten Kollektiv nahm Bezug 
							auf die gleichnamige Organisation in der BRD, deren Mitglieder von 
							der Erkenntnis ausgingen, dass psychische und psychosomatische Veränderungen 
							bzw. Krankheiten in den zerstörenden Mechanismen des kapitalistischen 
							Systems wurzeln. Das Ziel lautete dementsprechend nicht, wie zumeist 
							in den bestehenden psychiatrischen Einrichtungen, die PatientInnen 
							soweit zu heilen, dass sie wieder in den kapitalistischen Verwertungsprozess 
							integriert werden können, sondern vielmehr die systembedingten 
							Ursachen der Krankheiten aufzuzeigen und anzugreifen. Der 
							Stein, den jemand in die Kommandozentralen des Kapitals wirft, und 
							der Nierenstein, an dem ein anderer leidet, sind austauschbar. Schützen 
							wir uns vor Nierensteinen!(12)
 
 Die Band S.P.K. griff diese Theorien zwar teilweise auf, ging in 
							ihren Aktionen aber nie über einen theoretischen und musikalischen 
							Rahmen hinaus. Die Freitode zweier Bandmitglieder, darunter des 
							Gründungsmitglieds Ne/H/iL, zeigten, dass auch innerhalb der 
							Band keineswegs ein Klima gegeben war, welches die Probleme psychischer 
							Veränderungen auffing. Als Graeme Revell in einem Interview 
							auf die Ursachen angesprochen wurde, antwortete er in einer Weise, 
							die in ihrer äußerst zynischen Grundhaltung charakteristisch 
							für viele Projekte der Industrial Culture war und wohl das 
							skurrile Image der Band unterstreichen sollte: Ich kenne die 
							Gründe nicht. Sie haben es mir nicht verraten. Und sie haben 
							mir auch nichts in ihrem Testament vermacht, was ich wirklich ärgerlich 
							finde.(13)
 
 ADOLF WÖLFLI UND DIE MUSIQUE BRUT
 
 Der S.P.K.-Gründer Graeme Revell veröffentlichte 1986 
							eine Konzeptplatte mit Vertonungen von Kompositionen von Adolf Wölfli 
							und knüpfte damit wieder an seine anfängliche Auseinandersetzung 
							mit dem Bereich psychischer Veränderungen an, wenn auch nun 
							von einem kunsthistorisch orientierten Ansatz ausgehend. Bis zu 
							seinem Tod (1930) verbrachte Wölfli über die Hälfte 
							seines Lebens in der Irrenanstalt in Waldau bei Bern 
							in der Schweiz. Der äußeren Freiheit beraubt, entwickelte 
							er im Innern eine auf ihn selbst bezogene Welt voller eigentümlicher 
							Menschen, Pflanzen und Maschinen mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten. 
							Diese dokumentierte er in einem äußerst umfangreichen 
							Werk von Zeichnungen, Collagen, Kompositionen und Texten. Allebrah, 
							du bist Musik. Allebrah, du bist Gott... Allebrah, nun ist Sommer. 
							Allebrah, du bist krank. Ich heiße Hinterpommer. Drum sende 
							ich den Schwank. Voll Wunden, Schmerz und Hiebe. Auf hartem Krankenbett 
							ist Gott ja voller Triebe. Drum wird er heut nicht fett.(14)
 
 In vielen Zeichnungen von Wölfli lassen sich eingebunden in 
							Ornamenten und Figuren Kompositionen in Form traditioneller sowie 
							vielfach auch abgewandelter Musiknoten erkennen. In anderen Zeichnungen 
							bediente sich Wölfli verschiedener Wortsilben und Symbole, 
							die von ihm kreiert wurden, um einzelne Kompositionen darzustellen. 
							In schriftlicher Form gab er dazu Anweisungen wie die Musikstücke 
							im einzelnen aufzuführen seien. Ihm selbst standen als Instrumente 
							nur einige selbstgebaute Papiertrompeten zur Verfügung, auf 
							denen er teilweise mehrere Stunden ununterbrochen in seiner Zelle 
							spielte.
 
 Für das musikalische Werk Wölflis wurde der Begriff der 
							Musique Brut geprägt. Er ist abgeleitet von der Theorie der 
							Art Brut, die der französische Maler Jean Dubuffet um 1945 
							entwickelte. Dubuffet lehnte die gesellschaftlich anerkannten Kunstgattungen 
							grundsätzlich ab und sah im Gegensatz zu diesen in den Gestaltungen 
							von Kindern und psychisch Veränderten die eigentliche Kunst, 
							da diese aus dem Innern heraus spontan, unreflektiert und weitgehend 
							unmanipuliert entsteht. Dubuffet selbst veröffentlichte mehrere 
							Aufnahmen improvisierter Musikstücke, die in den frühen 
							sechziger Jahren in Zusammenarbeit mit dem dänischen Maler 
							Asgar Jorn entstanden. Ohne besondere musikalische Fähigkeiten 
							und ohne Kenntnisse über die Entwicklungen der musikalischen 
							Avantgarde benutzten die beiden Künstler unterschiedlichste 
							Instrumente, denen sie neue, bisher ungeahnte Töne entlocken 
							wollten. Die Ergebnisse zeichnete Dubuffet mit einem vergleichsweise 
							einfachen Tonbandgerät auf. Man nennt eine Aufnahme gut, 
							wenn die Töne klar und deutlich sind. Doch in der Alltagswelt 
							unseres Ohres gibt es nicht nur diese Töne, sondern auch - 
							und sogar in einem weit größerem Maße - sehr unreine, 
							undeutliche und verwaschene Töne, die von weit herkommen und 
							mehr oder weniger schlecht zu verstehen sind. Wenn man sich dafür 
							entscheidet, sie zu ignorieren, dann führt das zu einer Schein-Kunst, 
							die nur eine bestimmte Kategorie von Tönen zuläßt. 
							Mein Ziel dagegen war eine Musik, die sich nicht auf eine Auswahl 
							gründet, sondern die alle Töne einbezieht - und vor allem 
							die Töne, die man fast unbewusst hört. (...)(15)
 
 Gerade an Adolf Wölfli wird deutlich wie sehr die Charakterisierung 
							einer Person als Genie oder Wahnsinniger von der jeweiligen Gesellschaft 
							und dem Herrschaftssytem abhängig ist. Während Wölfli 
							selbst über die Hälfte seines Lebens von der Gesellschaft 
							verstoßen in der Psychiatrie verbrachte, wurde er zweiundvierzig 
							Jahre nach seinem Tod auf der Documenta, der weltweit bedeutendsten 
							Ausstellung moderner Kunst, als ein Vorläufer der avantgardistischen 
							Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts gewürdigt und seine 
							Zelle originalgetreu nachgebaut. Zudem widmeten mehrere KomponistInnen 
							einzelne Stücke Wölfli oder vertonten wie Revell dessen 
							musikalische Aufzeichnungen. Deutlich wird an der Person Wölflis 
							aber auch, dass es neben den öffentlich anerkannten Kunst- 
							und Musikstilen eine Vielzahl von Entwicklungen gibt, die auf ihre 
							Weise mindestens ebenso bedeutend sind, aber nie einen größeren 
							Bekanntheitsgrad erlangen, weil sie keine Möglichkeit haben 
							ein interessiertes Publikum zu erreichen oder sich der Kulturindustrie 
							mit ihren Verwertungsmechanismen entziehen.
 
 RÜCKSCHRITT UND ENTWICKLUNG
 
 Auch wenn der Industrial Culture auf Grund ihrer kontroversen Stilmittel 
							und Aussagen, sowie ihrer in vielfacher Hinsicht schweren Zugänglichkeit 
							weitgehend eine angemessene Anerkennung als avantgardistische Strömung 
							versagt blieb, so ist bis heute ihr Einfluß auf zahlreiche 
							Projekte im Bereich der experimentellen Musik immens. Nur wenige 
							Post-Industrial-MusikerInnen beabsichtigten allerdings bewusst im 
							Sinne der ursprünglichen Zielsetzungen von Gruppen wie Throbbing 
							Gristle abgestumpfte und unterdrückte Empfindungen aufzubrechen. 
							Die Darstellung von Gewalt verkommt dabei oftmals zum Selbstzweck 
							und wird zum extremen Ausdruck einer von Konkurrenz bestimmten Gesellschaft 
							ohne sie in Frage zu stellen. Nicht zuletzt erklärt sich die 
							augenfällige Dominanz von Männern in den Projekten wie 
							auch in der Szene in diesem Zusammenhang auch aus dem sozialisationsbedingt 
							unterschiedlichen Verhältnis zur Gewalt von Frauen und Männern.
 
 Beispielhaft für einen völlig unreflektierten Umgang 
							mit dem Stilmittel der Provokation sind die Veröffentlichungen 
							und Konzerte der englischen Band Grey Wolves und ihrer Nebenprojekte. 
							Die Gruppe greift blasphemisch christliche Themen auf, beschreibt 
							individuellen Terror als Kunstform und setzt gezielt eine faschistische 
							Symbolik ein. Unabhängig von der Frage, inwieweit dem tatsächlich 
							eine faschistische Grundhaltung oder eine vorrangig am Ziel der 
							Provokation ausgerichtete künstlerische Position zu Grunde 
							liegt, entspricht eine derartige Praxis letztlich einer stumpfsinnigen 
							Verhöhnung der Opfer des Faschismus, welche aber auch gleichzeitig 
							reaktionäre Tendenzen innerhalb der Szene bestärkt.
 
 Die gezielte Provokation der Industrial Culture verkam bei vielen 
							Bands, die der ersten Generation folgten, zu einer zu einer Ästhetisierung 
							des Schreckens. Oftmals ging es dabei nur um eine möglichst 
							abstoßende und schockierende Wirkung, sowie in diesem Zusammenhang 
							um eine Steigerung der eigenen Popularität. Für viele 
							HörerInnen bildeten entsprechende Aufnahmen gleichzeitig einen 
							Soundtrack für eigene regressive Bedürfnisse, ohne jedoch 
							zu einer Auseinandersetzung mit diesen anzuregen. Letztlich in ihr 
							Gegenteil gewendet wurde die Zielsetzung der ursprünglichen 
							Industrial Culture hinsichtlich einer wirklichen Dekodierung manipulativer Erscheinungen 
							auf dem Weg des Aufbruchs repressiver innerer und äußerer 
							Strukturen.
 
 Anmerkungen:
 (1) Artaud, Antonin / Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). 
							(1932). In: Artaud, Antonin / Das Theater und sein Double. (S. Fischer). 
							Frankfurt am Main, 1969.
 (2) Siehe (1).
 (3) Vale, V. und Juno, Andrea (Hrsg.) / Industrial Culture Handbook. 
							(Re/Search). San Francisco, 1990.
 (4) Cosey Fanni Tutti zitiert in: Hartmann, Walter / Show me the 
							bunker darling. In: Hartmann, Walter und Pott, Gregor (Hrsg.) / 
							Rock Session 6 - Konsequenz und Rhythmik. (Rowohlt). Reinbeck, 1982.
 (5) P-Orridge, Genesis / Die Verbreitung von Information. In: Maeck, 
							Klaus und Hartmann, Walter (Hrsg.) / Decoder Handbuch. (Trikont 
							Duisburg). Duisburg,1984.
 (6) P-Orridge, Genesis / Der Einsturz des Kontrollsystems. In: Sterneck, 
							Wolfgang (Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten). 
							Hanau / Solothurn, 1999.
 (7) Coum Transmission / Annihilating Reality. In: Bronson, A. A. 
							und Gale, Peggy (Hrsg.) / Performance by artists. (Art Metropole). 
							Toronto, 1979.
 (8) Aussage von Otto Mühl in einem TV-Interview; ca. 1972.
 (9) Throbbing Gristle / Slug Bait. Auf der LP: The second 
							annual report of Throbbing Gristle (Industrial). 1976.
 (10) Thee Temple Ov Psychick Youth / Der Temple. In: Sterneck, Wolfgang 
							(Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten). Hanau, 
							1996.
 (11) S.P.K. / Dokument One. (Flugblatt). London, 1981.
 (12) Sozialistisches Patienten Kollektiv / Aus der Krankheit eine 
							Waffe machen. (Trikont). München, 1972.
 (13) Aus einem Interview mit Operator in: Chainsaw Magazine Nr. 
							11. London, 1981.
 (14) Adolf Wölfli zitiert auf der LP: Verschiedene / Necropolis, 
							Amphibians and Reptiles - IV Interpretations of music by Adolf Wölfli. 
							(Musique Brut). 1986.
 (15) Dubuffet, Jean / Musikalische Erfahrungen. (1961). In: Block, 
							Ursula und Glasmeier, Michael (Hrsg.) / Broken Music - Artists 
							Recordwork. (DAAD & Gelbe Musik). Berlin, 1989.
 
 
 Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
 Wolfgang Sterneck:
 Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
 contact@sterneck.net
 
 
 
 
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