|
|
Wolfgang Sterneck:
DAS KÜNSTLICHE GERÄUSCH
- FUTURISTISCHE UND KONKRETE MUSIK -
- Die Musik des Futurismus -
- Die russische Avantgarde -
- Die Konkrete Musik -
- Die Elektronische Musik -
- Die Avantgarde der Rock-Musik -
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden die Fundamente der westlichen
Musikkultur grundsätzlich in Frage gestellt und mehrfach im
Rahmen avantgardistischer Strömungen radikal aufgebrochen.
Eine wesentliche Rolle nahm dabei die Einbeziehung von Geräuschen
in die Musik ein, die durch die Entwicklung verschiedener elektronischer
Instrumente in einen zunehmenden Masse bearbeitet werden konnten.
DIE MUSIK DES FUTURISMUS
Der um 1910 aufkommende italienische Futurismus wurzelte
in einer grundlegenden Ablehnung der bürgerlichen Kultur. Dieser
wurde ein Weltbild gegenübergestellt, welches gleichermaßen
von fortschrittlichen und avantgardistischen Elementen wie auch
in wesentlichen Bereichen von reaktionären Werten geprägt
war. So verherrlichten die Futuristen in ihren Gemälden, Gedichten
und Kompositionen, sowie insbesondere in ihren Manifesten den Krieg,
stellten sich jeglichen emanzipatorischen Bewegungen entgegen und
propagierten den uneingeschränkten technischen Fortschritt.
Bezeichnender Weise unterstützten in den zwanziger und dreißiger
Jahren die meisten Futuristen die faschistische Diktatur Mussolinis.
Schon 1908 fasste Filippo Marinetti im Manifest des Futurismus
diese Haltung zusammen: Wir wollen den Mann besingen, der
das Steuer hält. Wir wollen den Krieg als die einzige Hygiene
der Welt glorifizieren, den Militarismus, den Patriotismus, die
schönen Ideen für die man stirbt, und die Verachtung des
Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien
jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, kämpfen.
Wir wollen die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und
Werften besingen, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet
werden, die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen
verzehren, und die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden
an den Wolken hängen.(1)
Wegweisend für den Bereich der futuristischen Musik, dem Bruitismus,
wurde das im März 1913 veröffentlichte Manifest Die
Geräuschkunst, welches konzeptionell wesentliche Strömungen
der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusste.
Luigi Russolo knüpfte darin an Veröffentlichungen von
Ferruccio Busoni und Filippo Marinetti an und formulierte das Konzept
einer neuen Geräuschmusik, welches sich völlig vom bis
dahin vorherrschenden Verständnis von Musik lossagte. Geräusche
wurden darin gleichwertig neben Töne gestellt, die von klassischen
Instrumenten erzeugt wurden, bzw. teilweise auch als höherwertig
angesehen, wobei die Quelle das entscheidende Merkmal der Einschätzung
bildete. Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren
Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben,
das Brummen der Motoren, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen
der Sägewerke und die Sprünge der Straßenbahnen
zu unterscheiden. Wir wollen diese so verschiedenen Geräusche
aufeinander abstimmen und harmonisch anordnen. Jede Äußerung
unseres Lebens ist von Geräuschen begleitet. Das Geräusch
ist folglich unserem Ohr vertraut und hat das Vermögen, uns
unmittelbar in das Leben zu versetzen. Während der Ton, der
nicht am Leben teilhat, immer musikalisch eine Sache für sich
und ein zufälliges, nicht notwendiges Element ist. Die Geräuschkunst
darf sich nie auf eine imitative Wiederholung des Lebens beschränken.
Sie wird ihre größte emotionale Kraft aus dem akustischen
Genuss selbst schöpfen, den die Inspiration des Künstlers
aus den Geräuschkombinationen zu ziehen versteht.(2)
Seine Überlegungen versuchte Russolo mit Hilfe selbsterbauter
Geräuschmaschinen, sogenannter Lärmtöner
in die Praxis umzusetzen, die wiederum in Summer, Reiber,
Rauscher, Zischer, Knisterer und Heuler unterteilt waren.
Die konkrete Umsetzung entsprach allerdings nur eingeschränkt
den theoretischen Ansprüchen, auch wenn sie von der breiten
Öffentlichkeit als skandalöse Provokation empfunden wurde.
Meist untermalten während der Aufführungen verschiedene
Geräusche, die von den Lärmtönern hervorgerufen
wurden, verhältnismäßig gewöhnliche Musikstücke.
Neben Russolo experimentierten eine Reihe weiterer Futuristen mit
musikalischen Ausdrucksformen. So entwickelten Giacomo Balla und
Francesco Cangiullo 1914 das Konzept der Tast-Stimme,
dem zufolge im obersten Stockwerk eines Treppenhauses ein stimmlicher
Klang erzeugt wurde, den dann das Geländer über die entsprechenden
Vibrationen weiterleitete. Eine weiter unten stehende Person nahm
mit der Hand die Schwingungen auf. Fortunato Depero entwarf daneben
mehrere Modelle akustischer Plastiken, wie zum Beispiel einen plastischen
motorisch tönenden Komplex mit farbiger Beleuchtung und Spritzern.(3)
Die Konstruktionen konnten, sofern sie realisiert wurden, unter
anderem durch die Bedienung eines Blasebalgs verschiedene Geräusche
erzeugen, Lichtimpulse ausstrahlen und Flüssigkeiten verspritzen.
Gerade am Beispiel des italienischen Futurismus und der bruitistischen
Musik wird die Notwendigkeit deutlich, kulturelle Entwicklungen
im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Hintergründen zu
betrachten. Eine kulturelle oder politische Strömung kann in
Einzelbereichen durchaus einen fortschrittlichen und aufbrechenden
Charakter besitzen, wenn sie jedoch in ihrer Gesamtheit auf einer
rückschrittlichen Grundhaltung basiert, wendet sich letztlich
auch die Ausrichtung des Einzelbereichs in ihr Gegenteil. Daraus
folgend ist auch der eigentliche Charakter eines Musikstücks
immer abhängig von dem Zusammenhang in dem sich dieses befindet.
Eine losgelöste Betrachtung bewirkt oftmals eine verfälschende
Einschätzung. Entsprechend verschleiert die zumeist rein ästhetische
und musikgeschichtliche Darstellung des Bruitismus durch Teile der
bürgerlichen Musikwissenschaft den eigentlichen Charakter der
futuristischen Bewegung. Der formelle Ausbruch der italienischen
Bruitisten aus den Fesseln des bürgerlichen Musikverständnisses
offenbarte letztlich nicht in den innovativen Zügen seinen
eigentlichen Charakter, sondern vielmehr beispielhaft in aller Deutlichkeit
durch die Verherrlichung der maschinellen Klänge der Waffen
des ersten Weltkrieges.
DIE RUSSISCHE AVANTGARDE
Die Entwicklung des Futurismus in Russland unterschied sich grundlegend
von der in Italien. Zu den ursprünglich verbindenden Elementen
gehörten die Ablehnung der bürgerlichen bzw. aristokratischen
Kultur und die gleichzeitige Suche nach neuen zeitgemäßen
Ausdrucksformen, sowie die Begeisterung für die Errungenschaften
des Industriezeitalters. Im Gegensatz zu den reaktionären Positionen
des italienischen Futurismus propagierten die russischen Futuristen
jedoch eine befreiende gesellschaftliche Veränderung und unterstützten
1917 die sozialistische Oktoberrevolution. Entsprechend wurde auch
Fillipo Marinetti als Leitfigur des italienischen Futurismus während
einer Vortragsreise in Moskau scharf angegriffen.
Zu den herausragenden Werken des russischen Futurismus gehörte
die im Dezember 1913 erstmals aufgeführte Oper Sieg über
die Sonne in der bildnerische, musikalische und textliche
Elemente im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu einer Einheit verschmolzen.
Inhaltlich wurde der Sieg der futuristischen Lebensauffassung über
die alten Werte dargestellt, welche durch die Sonne symbolisiert
wurden. Die Oper knüpfte an das wegweisende Manifest
des ersten pan-russischen Kongresses der Sänger der Zukunft
an, welches die Zerstörung der alten Werte als ersten Schritt
auf dem Weg zu einer freien Kultur beschrieb: Wir proklamieren
jetzt die Rechte der Sänger und Künstler, indem wir denen
die Ohren zerreißen, die unter dem Schlamm der Feigheit und
der Unbeweglichkeit vor Kälte zittern. Zerstören: die
wohlklingende russische Sprache, die kastriert und wegradiert wurde
von den Sprachen der Götter der Kritik und Literatur. Zerstören:
die überkommene Richtung des Denkens. Zerstören: Eleganz,
Leichtigkeit und Schönheit der billigen und prostituierten
Künstler und Schriftsteller.(4)
Die inhaltliche Aussage der Oper fand eine Entsprechung in der
Wahl der künstlerischen Mittel, die fast durchgängig mit
den herkömmlichen Vorstellungen brachen und neue Ausdrucksformen
einführten. Der Text des Stückes wurde mit Ausnahme des
Prologs, der von Welimir Chlebnikow stammt, von Alexei Krutschonych
geschrieben, der einige Sequenzen in der von ihm entwickelten lauthaften
Za-um-Sprache formulierte. Der Maler Kasimir Malewitsch
entwarf die an kubistischen und futuristischen Formen ausgerichteten
Bühnenbilder und Kostüme, deren abstrakte Wirkung durch
den Einsatz von Scheinwerfern und damit verbundener Lichteffekte
noch verstärkt wurde. Die Musik komponierte Michail Matjuschin,
der sich auf die Verwendung von Vierteltönen konzentrierte,
wobei an einigen Stellen Geräusche, wie die Imitation des Ratterns
eines Flugzeuges, gezielt eingesetzt wurden.
Der Entwicklung einer bruitistischen Musik, welche auf der Verarbeitung
und Erzeugung von Geräuschen basierte, kam noch vor der Oktoberrevolution
das von Dziga Vertov gegründete Laboratorium des Gehörs
am nächsten. Vertov, der später zu den bedeutendsten sowjetischen
Filmregisseuren gehörte, analysierte dort verschiedenste Klänge
und Geräusche. Teilweise zeichnete er diese mit Phonographen
auf und schuf seinen Aufzeichnungen zufolge dokumentarische
Kompositionen und musikalisch-literarische Wortmontagen.(5)
Nach der Sozialistischen Oktoberrevolution kam es zu einer grundlegenden
Veränderung der kulturellen Situation in Russland. Den kommunistischen
Zielsetzungen entsprechend wurde in den ersten Jahren die Kunst
an den Bedürfnissen breiter Schichten der Bevölkerung
ausgerichtet und blieb nicht länger einer kleinen privilegierten
Schicht vorbehalten. Durchgehend begrüßten die Futuristen
1917 die revolutionäre Machtübernahme der Bolschewiki.
Charakteristisch war das Bekenntnis Wladimir Majakowskis, der zu
den bedeutendsten kulturrevolutionären Dichtern der Zeit gehörte
und später mit den Marschgedichten eine wegweisende
Verbindung von Agitation und Lyrik schuf: Anerkennen oder
nicht anerkennen? Diese Frage existierte weder für mich noch
für andere Moskauer Futuristen. Das war unsere Revolution!(6)
Zu den Aktivitäten der Futuristen in den Monaten nach der
Revolution gehörte die Gestaltung der zentralen 1.-Mai-Feier
1918 auf dem Roten Platz in Moskau, der mit großformatigen
Transparenten geschmückt wurde, auf denen sich futuristische
Graphiken und revolutionäre Parolen befanden. Darüber
hinaus beteiligten sich die Futuristen an den Kulturbrigaden, sowie
an den Fahrten der Agit-Züge, die dazu beitragen sollten die
Ideale der Revolution auch in abgelegenen Landesteilen zu verbreiten.
Mehrere Futuristen engagierten sich zudem in den staatlichen Kulturgremien
und übernahmen dort leitende Positionen. In einem programmatischen
Manifest hieß es entsprechend: Von heute an, zugleich
mit der Vernichtung des Zarentums, wird abgeschafft das Dahinvegetieren
der Künste in Schlössern, in Galerien, Salons, Büchereien
und Schauspielhäusern. Maler und Schriftsteller werden verpflichtet,
sofort die Farbtöpfe zu ergreifen und mit den Pinseln ihrer
Meisterschaft alle Flanken, Stirnwände und Brustbreiten der
Städte, der Bahnhöfe und der ewig ausschwärmenden
Eisenbahnwagen auszuschmücken. Möge von nun an der Staatsbürger
allerorten Musik der vortrefflichen Tondichter hören: Melodien,
Getöse, Geräusche. Mögen die Straßen für
jedermann zum Festtag der Kunst werden. - Alle Kunst dem ganzen
Volk!(7)
Um 1920 löste sich in einem fließenden Prozess der Futurismus
als Bewegung weitgehend auf. Die meisten Futuristen, die sich später
mit anderen avantgardistischen KünstlerInnen in der Linken
Front der Künste (LEF) zusammenschlossen, hatten sich inzwischen
neuen Ansätzen geöffnet und die futuristischen Ausdrucksformen
weiterentwickelt. Gleichzeitig beeinflussten verschiedene Elemente
des russischen Futurismus nachhaltig verschiedene kulturelle Tendenzen.
So hatte das bruitistische Musikverständnis in den ersten Jahren
nach der Revolution einen großen Einfluss auf die Entwicklung
einer neuen Musikkultur. Im Moskauer Gewerkschaftspalast trat in
diesem Sinne mit den Ingenieuristen ein Geräuschorchester auf,
dessen Instrumente aus "Motoren, Turbinen, Sirenen und Hupen"(8) zusammengesetzt
waren. Im Theaterbereich nutzen die Regisseure Wsewolod Meyerhold
und Nikolai Foregger bei einigen ihrer Aufführungen unter anderem
Maschinen, Metallstangen und Glasscherben zur Klangerzeugung.
Einen Schritt weiter ging Arseni Awraamow mit den Aufführungen
der von ihm unter der Bezeichnung Symphonie der Sirenen
konzipierten Produktionskonzerte, die sich in ihrer Umsetzung nicht
auf ein einzelnes Orchester bzw. einen Konzert- oder Theatersaal
beschränkten, sondern ganze Stadtteile in die Aufführungen
einbezogen. Als Instrumente kamen unter anderen Fabrikmaschinen,
Flugzeugmotoren, Schiffssirenen, Lastwagen und Maschinengewehre
zum Einsatz. Ein zentrales musikalisches Motiv der Konzerte bildete
das revolutionäre Arbeiterlied Die Internationale
an dessen Vortrag sich auch die ansässige Bevölkerung
beteiligte. Grundlegend für das Konzept der Produktionsmusik
war die Forderung nach einer zeitgemäßen proletarischen
Musik, die sich nicht nur inhaltlich von der bürgerlichen Musik
abgrenzte, sondern auch in ihrer konkreten akustischen Umsetzung.
Entsprechend wurden die klassischen Instrumente als rückständiger
Ausdruck einer unterdrückenden Kultur weitgehend abgelehnt
und stattdessen Instrumente eingesetzt, die den Arbeitsbereichen
des Proletariats entsprachen und die revolutionären Entwicklungen
angemessen umsetzten. Vor diesem Hintergrund gelang es durch die
Produktionskonzerte zumindest ansatzweise die vorherrschende Trennung
der Bereiche Kunst, Arbeit und Lebensalltag aufzuheben und damit
den Musik- bzw. Kunstbegriff neu zu definieren. Bis heute nahezu
einzigartig ist die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung
und die Ausweitung der Konzerte auf ganze Städte.
Einen anderen Weg ging Michail Matjuschin, der ab 1918 im staatlichen
Institut der Künste systematisch das Verhältnis von Licht,
Farbe und Ton untersuchte. In Rahmen verschiedener Aufführungen
in seiner Privatwohnung arbeitete Matjuschin gleichzeitig mit verschiedenen
Gemälden, Lichteffekten und Tönen und näherte sich
dabei seinem Ideal einer künstlerischen Ausdrucksform, welche
die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattungen aufhebt. Ich
stelle mir eine rote Kugel von der Größe eines Kürbisses
vor, die wie ein Gong erklingt; ihr gegenüber einen grünen
Kubus, der ein prasselndes Geräusch von sich gibt. Oder eine
niedrige Kelchform von grüner Farbe, die wie die tiefe Baßsaite
eines Flügels klingt, und auf der gegenüberliegenden Seite
eine himmelblaue Spirale, die Pfiffe von sich gibt.(9)
In der Mitte der zwanziger Jahre nahm der staatliche Druck auf
experimentelle und avantgardistische Kunstbewegungen kontinuierlich
zu, auch wenn ihnen ausdrücklich ein Bekenntnis zur Revolution
zu Grunde lag. 1932 kam es zur Durchsetzung des Sozialistischen
Realismus als einzige staatlich geduldete Kunstrichtung und damit
zur Aufgabe der Politik der Toleranz gegenüber verschiedenen
kulturrevolutionären Strömungen. In Folge wurden unter
dem Vorwurf des Formalismus und der Links-Abweichung alle fortschrittlichen
KünstlerInnen verfolgt, die sich nicht bedingungslos den staatlichen
Vorgaben unterordneten. Zwangsweise zu Ende ging dadurch eine Phase
der Innovation und des Experiments, die sich nicht auf die eingeschränkte
Sphäre avantgardistischer Kreise beschränkte, sondern
gesamtgesellschaftlich eine kulturell aufbrechende Bedeutung erlangt
hatte.
DIE KONKRETE MUSIK
Wie die VertreterInnen der Avantgarde in der Sowjetunion leitete
auch der französische Komponist Edgar Varèse in den
zwanziger Jahren die Entwicklung einer neuen Musik vom Stand der
gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen ab: Wir
halten es für nötig, veraltete Werkzeuge durch andere
zu ersetzen, die durch neue Bedürfnisse angefordert werden,
und wir finden, daß das Boulderdamm-Kraftwerk uns besser ausdrückt
als die ägyptischen Pyramiden und die gotischen Kathedralen.
Aber in der Musik muß man folgern, wenn man ein Konzert mit
zeitgenössischer Musik verläßt, daß die meisten
Komponisten taub seien oder sich ihr Auffassungsvermögen auf
diejenigen Töne beschränke, die seit ein paar hundert
Jahren von Orchestern hervorgebracht werden. (...)(10)
Varèse suchte beständig nach Möglichkeiten, um
seine aufbrechenden Vorstellungen umzusetzen und die von ihm angestrebte
Befreiung der Musik zu realisieren. Die Bedeutung seiner in den
zwanziger und frühen dreißiger Jahren entstandenen Stücke
lag zumeist im Bruch mit den herkömmlichen Aufbauprinzipien
und Thematiken, sowie in der Betonung des Schlagzeugs. Die wohl
bekannteste Komposition Varèses, die 1931 entstandene Ionisation,
basierte auf gebrochenen, mehrfach wechselnden Rhythmen, die durch
verschiedene Schlagzeuginstrumente erzeugt wurden, darunter auch
ein entsprechend eingesetztes Klavier. Wie bei fast allen Werken
Varèses in den zwanziger und dreißiger Jahren reagierten
die meisten KritikerInnen und große Teile des Publikums anfangs
ablehnend.
Nachdem Varèse zeitweise mit manipulierten Schallplattenspielern
und Radiogeräten als Klangerzeuger experimentierte, wurden
um 1950 die von ihm lang erhofften elektronischen Mittel entwickelt,
die es ermöglichten, seine Vorstellungen einer neuen Organisation
des Geräusches praktisch umzusetzen. Seiner Komposition Deserts
bestand aus vier Phasen in denen ein Orchester zum Einsatz kam,
und drei Phasen in denen auf Tonband aufgezeichnete industrielle
Klänge abgespielt wurden. Der 1958 für die Brüsseler
Weltausstellung komponierte Poeme electronique beruhte
dann völlig auf der Verwendung von elektroakustischen Tönen.
Einen äußerst weitreichenden Einfluß hinsichtlich
der Einbeziehung des Geräusches in die Musik erlangte John
Cage. Bei seiner Suche nach neuen Ausdrucksformen ging er von der
Überzeugung aus, daß natürliche oder unbewußt
hervorgerufene Klänge sich in ihrer musikalischen Wertigkeit
nicht von denen unterscheiden, die von herkömmlichen Instrumenten
hervorgerufen werden. Schon in den vierziger Jahren arbeitete Cage
in diesem Sinne mit Klavieren, die an bestimmten Saiten mit Materialien
aus Holz und Plastik präpariert waren, verwandte Oszillatoren
und Radioapparate, definierte die Gegenstände in einem Wohnzimmer
als Musikinstrumente und nutzte Schallplatten, die in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten abgespielt wurden. Der Ansatz von Cage fand seinen
Höhepunkt in 4,33, einem Stück in dem in völliger
Abkehr vom westlichen Musikverständnis kein Ton absichtlich
erzeugt wird, während gleichzeitigdie umgebenden Geräusche
zur Musik erklärt werden.
Grundlegend für die Werke von Cage war das Ziel eines bewußteren
Hörens bzw. generell einer Weiterentwicklung des Bewußtseins.
Meine Lieblingsmusik ist die, die ich noch nicht gehört
habe. Ich höre die Musik nicht, die ich schreibe. Ich schreibe,
um die Musik zu hören, die ich noch nicht gehört habe.
- Wir leben in einer Zeit, in der sich für viele Menschen das
Bewußtsein von dem, was für sie Musik ist oder sein könnte
geändert hat. Etwas, das nicht seine Definition im Lexikon
oder seine Theorien in der Schule kennt, etwas, das sich nur noch
im Faktum seiner Schwingungen ausdrückt. Menschen, die auf
den schieren Schwingungsvorgang achten, nicht in Bezug zu einer
fixierten idealen Ausführung, sondern jedesmal gespannt darauf,
wie es sich diesmal ereignet. Eine Musik, die den Hörer zu
dem Augenblick trägt, wo er ist.(11)
In Frankreich experimentierten Pierre Henry und Pierre Schaeffer,
die Begründer der Musique concrète, seit 1948 mit unterschiedlichsten
Geräuschen des städtischen Alltags und der Natur, sogenannten
konkretem Material, sowie mit gezielt hervorgerufenen Tönen,
die unter anderem durch die Verwendung von präparierten Instrumenten
erzeugt wurden. Über eine maschinelle Bearbeitung wurden die
aufgezeichneten Geräusche verfremdet und mit anderen Geräuschen
in Verbindung gebracht. Durch das Ziel der Verfremdung und der musikalischen
Verarbeitung grenzte sich die Konkrete Musik von verschiedenen experimentellen
Ansätzen im Bereich des Hörspiels und des Films ab. Dazu
gehörte insbesondere Walter Ruttmanns bildloser Film Weekend,
der neue Maßstäbe im Zusammenhang mit der Verwendung
von Geräuschen setzte. Ruttmann, der in den zwanziger Jahren
an mehreren avantgardistischen Filmprojekten beteiligt war, später
aber als Anhänger des Nationalsozialismus Propagandafilme drehte,
erzählte in dem 1930 erstmals aufgeführten Tonfilm mit
ausschließlich akustischen Materialien alltägliche Begebenheiten
eines Wochenendes. Zu hören sind neben vielem anderen Verkaufsgespräche
an einem Obststand, die Geräuschkulisse während einer
Mittagspause in einer Fabrik und Aufnahmen eines Gottesdienstes,
sowie das Gebell von Hunden, das Anlassen eines Autos und das Klingeln
eines Weckers.
Vom Verständnis der klassischen Musik unterschied sich das
Konzept der Musique concrète nicht nur durch die Einbeziehung
des konkreten Materials, sondern auch in Bezug auf ihren inhaltlichen
Ansatz und auf ihre Kompositionsweise. Schaeffer schrieb dazu: Wir
wenden das Wort abstrakt auf die Musik im gewohnten
Sinne an, weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist, dann
theoretisch notiert wird und schließlich in einer instrumentalen
Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt. Unsere
Musik haben wir konkret genannt, weil sie auf vorherbestehenden,
entlehnten Elementen einerlei welchen Materials - seien es Geräusche
oder musikalische Klänge - fußt und dann experimentell
zusammengesetzt wird, aufgrund einer unmittelbaren, nicht theoretischen
Konstruktion, die darauf abzielt, ein kompositorisches Vorhaben
ohne Zuhilfenahme der gewohnten Notation, die unmöglich geworden
ist, zu realisieren.(12)
Anfangs arbeitete Schaeffer mit Schallplatten, auf denen er Geräusche
aufzeichnete und diese dann in unterschiedlichen Geschwindigkeitsstufen
abspielte. 1948 kam es unter dem Titel Concert de bruits
zu einer ersten öffentlichen Aufführung der Ergebnisse
in einer speziellen Radiosendung. Ausgestrahlt wurden unter anderem
Geräuschaufzeichnungen von Eisenbahnzügen und Eßgeschirr.
Entscheidend für die Weiterentwicklung der Forschungen war
die Einführung des Magnetbandes (1950), welches eine Vielzahl
neuer Möglichkeiten im Bereich der Aufnahme und Wiedergabe
eröffnete. Ein Jahr später gründeten Schaeffer und
Henry die Groupe de Recherches de Musique concrète, die mit
konkreten Klängen experimentierte und versuchte die entsprechenden
Ergebnisse wissenschaftlich zu analysieren und dokumentarisch festzuhalten.
Die Experimente und die daraus entstandenen Kompositionen ermöglichten
neue Hörerlebnisse, die Schaeffer mehrfach fasziniert beschrieb:
Vor den Plattentellern und den Magnetophonen haben wir Augenblicke
der höchsten Verwunderung erlebt. Einen Gong anschlagen, diesen
Klang aufnehmen, ihn zunächst getreu reproduzieren, dann sich
seiner bemächtigen, ihn bearbeiten, aus ihm eine ganze Klangfamilie
gewinnen - welche neue Möglichkeiten!(13)
DIE ELEKTRONISCHE MUSIK
In den Studios des Nordwestdeutschen Rundfunks in Köln wurde
fast zeitgleich mit den Experimenten Henrys und Schaeffers ein eigenständiger
Weg elektronischer Musik eingeschlagen. Er unterschied sich von
der Musique concrète dahingehend, daß die entsprechenden
MusikerInnen kein konkretes Material, sondern ausschließlich
künstliche, von präparierten Generatoren erzeugte elektronische
Töne verwendeten, die aufgezeichnet und bearbeitet wurden.
Wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung der Elektronischen
Musik hatte der Informationstheoretiker Werner Meyer-Eppler durch
die Entwicklung neuer Methoden der Schallaufzeichnung und der Tonbearbeitung,
sowie der statistischen Analyse und der Beschreibung von Klängen
geschaffen. Unter der Leitung von Herbert Eimert wurden die Untersuchungen
Meyer-Epplers im 1951 gegründeten ersten Studio für elektronische
Musik in Köln weitergeführt. Die Zielsetzung lag in der
Entwicklung einer neuen musikalischen Ausdrucksform, die sich aus
den Möglichkeiten der technischen Neuerungen ableitete. Anfangs
nutzten die Mitarbeiter des Studios fast ausschließlich Generatoren
zur Klanggewinnung, die ursprünglich für andere technische
Bereiche entwickelt wurden, aber über die Erzeugung von akustisch
umsetzbaren elektrischen Impulsen und Schwingungen auch im Sinne
einer neuen Musik nutzbar waren. Erst im Laufe der Forschungen kam
es zur gezielten Entwicklung von Geräten, die als Instrumente
konzipiert waren.
Die vielfältigen Möglichkeiten des Kölner Studios,
das über Jahre hinweg weltweit eine führende Stellung
einnahm, führten innerhalb einer vergleichsweise kurzen Phase
zu musikalischen Ergebnissen, welche die Entwicklung der modernen
Musik nachhaltig beeinflußten. Einen wesentlichen Faktor bildete
dabei die feste Anstellung von MusikerInnen und WissenschaftlerInnen,
die sich völlig auf die Arbeit mit der neuen Materie konzentrieren.
Eimert schrieb 1953 dazu: Das Anfangsstudium der elektronischen
Musik unterscheidet sich in vieler Hinsicht von dem, was man sonst
unter Entwicklungsanfängen zu verstehen pflegt. Es ist keine
behutsame Entwicklung aus gegebenen Traditionsläufen, vielmehr
öffnet die elektronische Musik in dem radikalen Akt ihres technischen
Vorgangs den Zugang zu Klangerscheinungen, die in der bisherigen
Musik nicht bekannt sind. Die Aufsprengung der uns geläufigen
Klangwelt führt zu neuen musikalischen Möglichkeiten von
noch nicht übersehbaren Konsequenzen.(14)
Zu den wichtigsten Komponisten der Elektronischen Musik gehörte
Karlheinz Stockhausen, der schon früh mit Eimert zusammenarbeitete
und später die Leitung des Kölner Studios übernahm.
Beispielhaft für die frühen kompositorischen Arbeiten
im Bereich der Elektronischen Musik war Stockhausens Elektronische
Studie I (1953), die auf einem streng festgelegten, seriellen
Aufbau basierte. Die zeitliche Dauer der Töne wandelte sich
in einem klar festgelegten Verhältnis zur gleichzeitigen Veränderung
des Frequenzbereiches. Lange standen sich die VertreterInnen der
konkreten und der elektronischen Musik unversöhnlich gegenüber
und propagierten jeweils ihre eigene Ausrichtung als die zeitgemäßere
musikalische Ausdrucksweise. Wegweisend für die Annäherung
und die spätere Verschmelzung der beiden Ansätze wurde
das von Stockhausen 1956 veröffentlichte Stück Gesang
der Jünglinge, in dem gleichermaßen elektronische
Klänge und bearbeitetes konkretes Material eingesetzt wurde.
Die ausgeprägte religiöse Ausrichtung der Komposition,
die später mit einem zunehmend esoterischen Einschlag in den
Werken Stockhausens immer wieder auftrat, war allerdings inhaltlich
weder für die Elektronische Musik, noch für die Musique
concrète typisch.
In mehreren westeuropäischen Staaten, sowie in Nordamerika
und in Japan waren inzwischen Gruppen und Studios gegründet
worden, die an die Arbeiten der Gruppen um Schaeffer und Eimert
anknüpften und deren Ergebnisse zumeist innerhalb elektroakustischer
Kompositionen miteinander verbanden. In Bezug auf die Besetzung
der Studios war charakteristisch, daß in ihnen fast ausschließlich
Männer arbeiteten. Die bestehenden Sozialisationsmechanismen,
in deren Rahmen der Bereich der Technik von frühester Kindheit
an den Männern zugewiesen wird, kamen hierbei voll zur Geltung.
Die meisten VertreterInnen der Elektronischen Musik wie auch der
Musique concrète verstanden sich weniger als MusikerInnen,
sondern vorrangig als WissenschaftlerInnen und ForscherInnen. Mit
vielen anderen WissenschaftlerInnen war ihnen dabei der Irrtum gemeinsam,
daß sich die wissenschaftliche Arbeit losgelöst von den
gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten läßt
in denen sie entsteht. So eröffneten die KomponistInnen beider
Strömungen neue musikalische Wege, sie thematisierten aber
die politischen und sozialen Hintergründe der traditionellen
Ausdrucksformen bzw. der neuen Entwicklungen nur in Ausnahmefällen.
Die Abkehr von den Werken der klassischen Musik in denen sich vielfach
die zutiefst repressiven gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer
Entstehungszeit inhaltlich und strukturell widerspiegeln, wurde
zumeist technisch und ästhetisch begründet. Den tatsächlichen
Zusammenhängen völlig widersprechend wurde die Musik dadurch
in einen scheinbar bezugslosen und von den äußeren Umständen
unbeeinflußten Raum gestellt.
DIE AVANTGARDE DER ROCK-MUSIK
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahren verlagerten sich
die Zentren experimenteller Tendenzen zunehmend auf verschiedene
gegenkulturelle Musikströmungen und Randbereiche der Rockmusik.
Einzelne MusikerInnen übernahmen Elemente der Elektronischen
und der Konkreten Musik um sie in einzelne Stücke zu integrieren
oder eigenständig weiter zu entwickelten. Die Beatles veröffentlichten
1967 mit Sgt. Peppers Lonley Hearts Club Band
das herausragende Pop-Album des Jahrzehnts, wobei sie für die
Umsetzung ihrer gleichermaßen eingängigen wie auch vielschichtigen
Kompositionen modernste Aufnahmetechniken nutzten. Mit dem Möglichkeiten
der elektronischen Musik hatten die Beatles schon zuvor experimentiert
und dabei unter anderem mit rückwärts laufenden Bänder
und Klangverfremdungen gearbeitet. Die Mittel der konkreten Musik
griffen die Gruppe in dem Stück Revolution 9 auf,
einer von John Lennon kreierten Geräusch-Collage die er als
Gemälde über die Revolution(15) beschrieb.
Bemerkenswert war dabei nicht nur das musikalische Ergebnis, sondern
insbesondere der Umstand, daß die Beatles damit ein Millionen-Publikum
erstmals mit der Konkreten Musik als Ausdrucksform konfrontierte.
Frank Zappa forderte 1966 mit dem programmatischen Titel seines
ersten Albums Freak out die völlige Abkehr von
den etablierten Normen und Werten der bürgerlichen Gesellschaft.
Mit seiner zumeist sarkastischen Kritik am American way of
life wurde er bald darauf zu einer Symbolfigur der Gegenkultur.
Lange unterschätzt wurde die musikalische Bedeutung der ersten
Veröffentlichungen Zappas, die er mit seiner Band The Mothers
of Invention einspielte. Virtuos griff Zappa darin immer wieder
Elemente unterschiedlicher Stile auf, um sie zum Teil gezielt verfremdend
oder auch parodistisch einzusetzen. Ungewöhnlich waren zudem
die vertrackten Rhythmusstrukturen, die mehrfach überraschend
unterbrochen und abgewandelt wurden, sowie die Montage von Geräuschen,
Stimmen und Songfragmenten zu assoziativen Collagen.
Der Pop-Art-Künstler Andy Warhol engagierte 1966 die Band
Velvet Underground für seine Mixed-Media-Shows in deren Rahmen
er verschiedene künstlerische Ausdrucksformen miteinander kombinierte.
In mehrerer Hinsicht verkörperte die Gruppe um Lou Reed und
John Cale eine Gegenposition zur Flower-Power-Romantik der Hippie-Bewegung.
Charakteristisch war die Thematisierung von Tabus wie Drogenabhängigkeit
und Sado-Masochismus in den Texten. Nachdem die Band anfangs verhältnismäßig
unbeachtet blieb, gelten inzwischen einiger ihrer Stücke als
Klassiker der Rock-Musik. Ausgeprägter als auf ihren LP-Veröffentlichungen
präsentierten sie darüber hinaus während ihrer Auftritte
ein wegweisendes Musikverständnis, das sich betont vom Anspruch
auf Perfektion löste und gezielt auch verzerrte Sounds, Übersteuerungen
und monotone Strukturen einschloß.
Die englischen Pink Floyd setzten in den siebziger Jahren mit inhaltlich
und musikalisch vielschichtigen Album-Veröffentlichungen wie
The Dark Side of the Moon und The Wall Maßstäbe
im Bereich der Rock-Musik. In ihrer Anfangszeit gehörten Pink
Floyd zu den Bands, die im Zusammenhang mit der Suche nach neuen
Bewußtseinsformen und den oftmals eng damit verbundenen Drogenerfahrungen
versuchten eine möglichst sphärische Atmosphäre zu
erzeugen. Ein wesentlicher Teil des ursprünglich weitgehend
von Syd Barrett bestimmten Programms der Gruppe waren flächenhafte,
für das damalige Verständnis ungewöhnlich lange Stücke
in die zum Teil Naturgeräusche und Tierstimmen eingespielt
wurden. Besondere Lichteffekte und Dia-Projektionen sollten die
Musik während der Auftritte untermalen und die psychedelische
Wirkung verstärken.
Im Verlauf der siebziger Jahre kam es durch Gruppen wie Kluster
und Tangerine Dream, sowie die Projekte von Klaus Schulze zu einer
zunehmenden Popularisierung der Elektronischen Musik. Die Veröffentlichungen
reichten von minimalistischen Kompositionen über musikalische
Imitationen von natürlichen Vorgängen bis zu betont harmonischen
Stücken. Eine herausragende Stellung nahm die Düsseldorfer
Gruppe Kraftwerk um Ralf Hütter und Florian Schneider ein.
Im Ansatz beinhaltete das Selbstverständnis Kraftwerks verschiedene
Parallelen zu den Theorien der Mitarbeiter des Kölner Studios,
ging aber hinsichtlich des Ziels einer elektronischen Volksmusik(16)
darüber hinaus. Entsprechend verknüpften Kraftwerk in
Rahmen der eingängigen und klar strukturierten Stücke
auf LP-Veröffentlichungen wie Autobahn und Mensch-Maschine
ihren avantgardistischen Ansatz mit Pop- und Rock-Elementen. Bezeichnend
für die grundlegende Ästhetik bzw. das Image der Gruppe
waren verschiedene Konzerte und Videos in denen roboterähnliche
Puppen die Stelle der Bandmitglieder einnahmen. Kraftwerk erlangte
einen großen Einfluß und beeinflußt bis in die
neunziger Jahre nachhaltig verschiedene Strömungen innerhalb
der populären Musik. Als Teil der Avantgarde im Bereich der
Rock-Musik gehörte die Gruppe zu den Projekten die eine Popularisierung,
aber gleichzeitig auch eine Kommerzialisierung elektronischer und
konkreter Ausdrucksmittel ein. Deren Einsatz wurde im Zuge der fortschreitenden
Entwicklungen hinsichtlich der Aufnahme-, Verarbeitungs- und Wiedergabetechnik
innerhalb der populären Musik bald darauf zu einer Selbstverständlichkeit.
Anmerkungen:
1) Marinetti, Filippo / Manifest des Futurismus. (1908).
In: Baumgarth, Christa / Geschichte des Futurismus. (Rowohlt). Reinbeck
bei Hamburg, 1966.
2) Russolo, Luigi / Die Geräuschkunst. (1913). In: Baumgarth
/ Futurismus. (Siehe 1).
3) Fortunato Depero zitiert in: Maur, Karin von / Vom Klang der
Bilder. (Prestel-Verlag). München, 1985.
4) Manifest des ersten pan-russischen Kongresses der Sänger
der Zukunft am 18. und 19. Juli 1913 in Uusikirkko. In: Baumeister,
Christine und Hertling, Nele (Hrsg.) / Sieg über die Sonne.
(Akademie der Künste). Berlin, 1983.
5) Dziga Vertov zitiert im Anhang zu: Beilenhoff, Wolfgang (Hrsg.)
/ Dziga Vertov - Schriften zum Film. (Hanser). München, 1973.
6) Majakowski, Wladimir / Ich selber. (1922 / 1928). In: Majakowski,
Wladimir / Wie macht man Verse? (Suhrkamp). Frankfurt am Main, 1964.
7) Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste.
(1918). In: Majakowski, Wladimir / Werke - Band 5 (Publizistik).
(Insel Verlag). Frankfurt, 1973.
8) Fülöp-Miller, Rene / Geist und Gesicht des Bolschewismus.
(Amalthea-Verlag). Wien, 1926.
9) Michail Matjuschin zitiert in: Powelichina, Alla / Über
die Musik im Schaffen des Malers Michail Matjuschin. In: Bauermeister,
Christine und Hertling, Nele (Hrsg.) / Sieg über die Sonne.
(Akademie der Künste). Berlin, 1983.
10) Edgar Varèse zitiert in: Stuckenschmidt, Hans Heinz /
Schöpfer der neuen Musik. (Suhrkamp). Frankfurt am Main, 1958.
11) Cage, John / Autobiographische Selbst(er)findung im echolosen
Raum. In: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 5/91. Mainz, 1991.
12) Schaeffer, Pierre / Musique concrète. (Ernst Klett Verlag).
Stuttgart, 1974.
13) Siehe 10).
14) Eimert, Herbert / Elektronische Musik. In: Technische Hausmitteilungen
des Nordwestdeutschen Rundfunks - Sonderheft über Elektronische
Musik. Hamburg, 1954.
15) John Lennon zitiert in: Moers, Rainer, Neumann, Wolfgang und
Rombeck, Hans / Die Beatles. (Bastei Lübbe). Bergisch Gladbach,
1988.
16) Aus einem Interview mit Ralf Hütter (Kraftwerk). In: Musik
Express Nr. 304. Hamburg, 1981.
Überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
|