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Wolfgang Sterneck:
DER BEFREITE KLANG
- AVANTGARDE UND KONSEQUENZ -
- Luigi Nono und die Revolution -
- John Cage und die Stille -
Eine konsequent verstandene experimentelle Musik steht für
das Bestreben musikalische und gleichzeitig auch gesellschaftliche
Grenzen aufzubrechen. Dies kann wie bei Luigi Nono insbesondere
über textliche Aussagen oder wie bei John Cage über einen
aufbrechenden kompositorischen Ansatz geschehen.
LUIGI NONO UND DIE REVOLUTION
Viele MusikerInnen, die ihre Arbeit als avantgardistisch verstehen,
stellen diese in einen scheinbar bezugslosen künstlerischen
Raum und ignorieren dadurch die gesellschaftlichen Zusammenhänge,
die zwangsläufig alle Ausdrucksformen beeinflußen. Der
italienische Komponist Luigi Nono trat dieser Haltung entschieden
entgegen und verstand seine Musik ausdrücklich als politische
Waffe im Kampf für eine revolutionäre Veränderung
der Gesellschaft. Konsequent bekannte er sich zum Kommunismus, wobei
er eine kritische Haltung gegenüber den Entwicklungen in den
Staaten des realen Sozialismus einnahm. Die Position,
in der ich mich selbst erkenne, ist jene, die die Kultur als Moment
der Bewußtwerdung, des Kampfes, der Provokation, der Diskussion,
der Teilnahme versteht. Eine Kultur, die nicht mehr paternalistisch
zu verbreiten ist, sondern in einem neuen sozialen Gewebe auf die
Probe gestellt werden muß. Das verstehe ich unter Musikmachen:
etwas das mich nicht anders engagiert als die Teilnahme an einer
Demonstration, an einer Auseinandersetzung mit der Polizei, oder,
wie es morgen der Fall sein könnte, an einem bewaffneten Kampf,
das heißt Klassenkampf. (...)(1)
Nono trat 1953 der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei, war
an mehreren Kultur- und Bildungsprogrammen beteiligt, die im Umfeld
der Partei entstanden, und gehörte zeitweise deren Zentralkomitee
an. Der Komponist bezeichnete sich selbst im Sinne Antonio Gramscis,
einem der Gründer und Theoretiker der PCI auf den sich Nono
immer wieder bezog, als organischen Intellektuellen.(2)
Er sah sich damit als ein Künstler, der im Klassenkampf klar
Position bezieht und in vielfältiger Hinsicht am Leben des
Proletariats, der im marxistischen Verständnis revolutionären
Klasse, teilnimmt.
Die klaren gesellschaftspolitischen Positionen Nonos führten
zwangsläufig zu einer scharfen Kritik an anderen Komponisten
der modernen Musik. So kritisierte Nono Karlheinz Stockhausen am
Beispiel seiner Komposition Hymnen, in der gleichermaßen
faschistische Nationalhymnen und revolutionäre Lieder völlig
undifferenziert zu einer Komposition verbunden wurden. Realitätsfern
setzte Stockhausen dadurch extremste gesellschaftliche Gegensätze
wie Unterdrückung und Selbstbestimmung, Diktatur und Freiheitskampf
auf eine Stufe. Nicht minder scharf griff Nono John Cage an, dem
er vorwarf, die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen,
in denen ein künstlerisches Werk entsteht, zugunsten einer
mystifizierenden und egozentrischen Grundhaltung zu ignorieren.
Nono unterschätzte dabei jedoch die potentiellen Möglichkeiten
der Kompositionen von Cage, die über die Vermittlung eines
erweiterten Begriffs von Musik ein bewußteres Wahrnehmen und
einen Prozeß der inneren Veränderung einleiten können,
der sich letztlich auch gesellschaftlich niederschlägt.
Ablehnend stand Nono allerdings auch dem Konzept des Sozialistischen
Realismus gegenüber, das seit den frühen dreißiger
Jahren von der sowjetischen Staatsführung als einzig geduldete
künstlerische Ausrichtung vorgegeben wurde. Der Sozialistische
Realismus sollte ursprünglich die gesellschaftliche Entwicklung
von einer revolutionären Perspektive ausgehend erfassen. Die
entsprechenden KünstlerInnen reduzierten ihre Aussagen aber
bald auf eine, an den Richtlinien der Partei ausgerichtete schematische
Darstellung der vorgeblichen sozialen Wirklichkeit.
Eine zentrale Stellung im Werk Luigi Nonos nahm der Kampf gegen
den Faschismus ein, wobei sich der Komponist insbesondere auf die
Resistenza, die italienische Widerstandsbewegung bezog. So basierte
der Text seines Chorwerks Il canto sospeso (Der
unterbrochene Gesang) auf Zitaten aus Abschiedsbriefen antifaschistischer
WiderstandskämpferInnen, die zum Tode verurteilt wurden. Über
die Würdigung des Widerstandes und die Trauer über die
Opfer hinausgehend, verstand Nono die Komposition als Aufforderung,
den Kampf für eine freie Gesellschaft auch in der Gegenwart
fortzusetzen. Nicht nur ein ruhmreiches Banner der Vergangenheit,
sondern Resistenza als ständiger Kampf, als neues Bewußtsein
in ständiger Entwicklung im subjektiven Handeln.(3)
Seit den sechziger Jahren ging Nono mit seinen Kompositionen zunehmend
auf die weltweiten antiimperialistischen Befreiungskämpfe ein.
Mehrfach vertonte Nono Reden und Texte von RevolutionärInnen
in denen einzelne Aspekte der Kämpfe beispielhaft zum Ausdruck
kamen. Darüber hinaus widmete er einzelne Stücke unter
anderem den Befreiungsbewegungen Vietnams und Venezuelas. Die Entwicklung
eines betont internationalistischen Ansatzes führte folgerichtig
zu einer Kritik an der gängigen Überbewertung der europäischen
Musikgeschichte und zu einer Öffnung gegenüber anderen
Musikkulturen.
Die 1975 erstmals aufgeführte Komposition Al gran sole
carico damore (Unter der großen Sonne mit
Liebe beladen) wurde zu einer umfassenden Darstellung der
Ideale von revolutionären, linken Bewegungen. Nono zeigte darin
geschichtliche Verbindungslinien auf, die von der Pariser Kommune
und der russischen Revolution von 1905 über den antifaschistischen
Widerstand bis zu den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen
und regionalen Arbeitskämpfen der Gegenwart reichten. Der szenischen
Aktion, wie Nono das Stück selbst bezeichnete, war ein Zitat
Che Guevaras vorangestellt, das sich auf die dialektische Beziehung
zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und kulturellem Ausdruck
bezog: Unsere Schönheit ist uns wiedergegeben durch die
Revolution. Der Text des musikalisch vielschichtigen und komplexen
Werkes, der zumeist von Frauenchören vorgetragen wurde, setzte
sich unter anderem aus Reden und Texten von Louise Michel, Lenin,
Bertolt Brecht und Fidel Castro zusammen. Widersprüchlich blieb
allerdings wie bei vielen anderen Stücken Nonos die schwerverständliche
sprachliche Darbietung der Texte, die der Vermittlung der entsprechenden
Inhalte entgegenstand.
Die 1964 entstandene Komposition La fabbrica illuminata
(Die erleuchtete Fabrik) setzte sich mit den entfremdeten
Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen in der Metallfabrik
Italsider in Genua auseinander. Beispielhaft sollte dabei der unmenschliche
Charakter des kapitalistischen Systems aufgezeigt werden. Nono bezog
in die Komposition gleichermaßen Gespräche, die er mit
den ArbeiterInnen der Fabrik geführt hatte, und Geräuschaufnahmen
des Produktionsprozesses ein, die neben Gesangsaufnahmen und elektronischen
Klangstrukturen eine eigenständige Ebene der Musik bildeten.
Auf Grund der inhaltlichen Ausrichtung untersagte die Leitung des
Italienischen Rundfunks, die Nono ursprünglich einen Kompositionsauftrag
erteilt hatte, die Ausstrahlung des Stücks.
Der Eingangschor basierte inhaltlich auf einer Beschreibung der
Situation der ArbeiterInnen in der Fabrik: Fabrik der Toten
wird sie genannt. Ausgesetztsein der Arbeiter den Verbrennungen,
den Giftgasen, den großen Gußstahlmassen. Ausgesetztsein
der Arbeiter den sehr hohen Temperaturen. Für acht Stunden
Arbeit kassiert der Arbeiter nur zwei. Ausgesetztsein der Arbeiter
den herumfliegenden Metallteilen. Humanitäre Bedingungen zur
Beschleunigung des Arbeitstempos. Ausgesetztsein der Arbeiter den
herunterstürzenden Gegenständen, den blendenden Lichtern,
dem Hochspannungsstrom. Wieviele Minuten pro Mensch, um zu sterben?.
Der zweite Textabschnitt beschrieb assoziativ den Einfluß
des Arbeitsprozesses auf das alltägliche Leben, der bis in
den Bereich der Sexualität reicht. Weitergehend wurde auf die
Beziehung der Fabrik zur umgebenden Stadt, sowie auf Auseinandersetzungen
mit den Staatsorganen eingegangen, um dann in der abschließenden
Strophe symbolhaft den Aufbruch aus der Unterdrückung und Ausbeutung
darzustellen. Vergehen werden die Morgen. Vergehen werden
die Ängste. Es wird nicht immer so sein. Du wirst etwas wiederfinden.
Nono führte La fabbrica illuminata mehrfach in
Fabriken auf und diskutierte mit den ArbeiterInnen über das
Stück und darüber hinausgehend über die gesellschaftliche
Bedeutung der Musik. Die meisten ArbeiterInnen bewerteten das Werk
grundlegend positiv, äußerten aber auch in einzelnen
Punkten Kritik, die wiederum in eine Auseinandersetzung über
den eigenen Umgang mit den Arbeitsbedingungen mündete: Ganz
direkt wollten die Arbeiter wissen, wie das komponiert sei, wie
aus Fabriklärm und Tarifverträgen Musik werden könne.
Sie bezogen das, was sie hörten, sofort auf sich. Und dann
warfen sie mir vor, die Geräusche in meinem Stück seien
bei weitem nicht so stark, wie die, die sie gewöhnt seien.
Das fiel ihnen auf. Sie sahen ein, daß sie bisher wie Roboter
in die Fabrik gegangen waren und ihre Arbeit getan hatten, ohne
weiter darüber nachzudenken. Jetzt wurde ihnen durch den Vergleich
plötzlich bewußt, unter welchen akustischen Bedingungen
sie arbeiten, und sie begannen zu überlegen, ob das denn so
sein müsse und ob es nicht Möglichkeiten gebe, das zu
verändern.(4)
JOHN CAGE UND DIE STILLE
Ausgehend von anarchistischen und zen-buddhistischen Grundgedanken
durchbrach der us-amerikanische Komponist John Cage (1912-1992)
immer wieder die Regeln und Grenzen der traditionellen Ausdrucksformen.
Seit den vierziger Jahren entwickelte er im Gegensatz dazu die Theorie
und Praxis einer in sich herrschaftsfreien Musik und beeinflußte
damit nachhaltig die Entwicklung der modernen Musik. Cage zufolge
hat jede Form des Seins auf einer übergeordneten Ebene letztlich
die gleiche Wertigkeit, unabhängig davon, ob sie sich ihrer
selbst subjektiv bewußt ist oder nicht. Entsprechend war für
Cage jeder Klang, jedes Geräusch und jeder Ton gleichwertig,
egal ob er von einer Flöte oder von einem fallenden Stein hervorgerufen
wird. Beide haben ihre ursprüngliche Bedeutung in sich selbst.
Die traditionelle Musikauffassung akzeptiert diese Eigenständigkeit
nicht. Sie ordnet vielmehr einen Ton ständig in einen Zusammenhang
mit anderen Tönen ein, bewertet ihn und stellt ihn dabei über
oder unter diese. Cage widersetze sich diesem Verständnis,
das sich in allen Bereichen der klassischen Musik widerspiegelt,
und setzte ihr ein erweitertes Verständnis von Musik bzw. von
musikalischer Wahrnehmung entgegen.
Eine entscheidende Phase im Leben von John Cage bildete um 1950
die Auseinandersetzung mit der Stille, die das gesamte spätere
Werk des Komponisten prägte. In einem schalldichten Raum an
der Harvard University in Cambridge stellte Cage überrascht
fest, daß er Geräusche hörte. Der zuständige
Techniker erklärte ihm später, daß er verschiedene
Abläufe in seinem Körper vernommen hatte. Ich hörte,
daß Schweigen, Stille, nicht die Abwesenheit von Geräusch
war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems
und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, daß die Stille
nicht akustisch ist. Es ist eine Bewußtseinsveränderung,
eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde
zu einer Erkundung des Absichtslosen. (...)(5)
Das veränderte Verständnis der Stille führte zur
Komposition von 4,33, einem Stück in dem kein Geräusch
absichtlich erzeugt wird. Die Aufgabe der beteiligten MusikerInnen
ist es, die Bühne zu betreten und sie nach einer Zeitspanne
von 4,33 Minuten wieder zu verlassen ohne ein Instrument gespielt
zu haben. Die Musik besteht aus den Geräuschen des Publikums,
einem Husten, Flüstern oder auch aus Protestrufen, genauso
wie beispielsweise aus den Geräuschen einer quietschenden Tür,
eines vorbeifahrenden Lastwagens oder eines Regengusses. Einige
Jahre nach der Komposition von 4,33 erklärte Cage
in einem Interview, daß er das Stück nicht mehr benötige,
da er inzwischen in der Lage sei, es ständig zu hören.
Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen
oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören,
wenn wir ruhig sind.(6)
Um seinem Ideal einer absichtslosen Musik auch in anderen Kompositionen
möglichst nahe zu kommen, arbeitete Cage mehrfach mit dem Zufallsprinzip.
Er erreichte damit, daß die Auswahl der Töne nicht nur
völlig unabhängig von einem wertenden Aufbau, sondern
auch darüber hinausgehend unabhängig vom individuellen
Geschmack des Komponisten, sowie von jeglichen psychologischen und
traditionellen Zusammenhängen stattfand. Cage verstand dabei
den Zufall nicht als etwas völlig beliebiges, sondern im eigentlichen
Sinne des Wortes als etwas, das einer Person zufällt. Auch
für ein zufälliges Ereignis gibt es immer eine Ursache,
dessen Wurzel sich in einem größeren Zusammenhang befindet,
auch wenn sie nicht offensichtlich ist.
Für die Komposition von Stücken ohne beabsichtigte Höhepunkte,
Reihenfolgen und Wiederholungen nutzte Cage verschiedene Zufallsoperationen,
darunter insbesondere das chinesische Orakel I-Ging, dessen zumeist
durch Münzwürfe hervorgerufenen Ergebnisse in vorbereitete
Notentabellen übertragen wurden. Das auf diese Weise 1951 entstandene
Klavierstück Music of Changes gilt inzwischen als
ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls im Sinne
der Absichtslosigkeitsetzte setzte Cage bei der Aufführung
von Imaginary Landscapes No. 4 zwölf Radioapparate
ein, die ohne vorherige Kenntnis des Programms eingeschaltet wurden.
Imaginary Landscapes No. 5 basierte auf der Verwendung
von zweiundvierzig beliebig ausgewählten Schallplatten, die
jeweils phasenweise überlagert abgespielt wurden, wobei Cage
auch in diesem Fall die entsprechenden Zeitverläufe durch Zufallsoperationen
ermittelte. Für die Komposition Atlas Eclipticalis nutzte Cage die Konstellation von Sternen auf entsprechenden Karten
zur Komposition.
Ein grundlegender Widerspruch in Bezug auf die Verwirklichung einer
Musik der Absichtslosigkeit blieb aber zwangsläufig auch in
den Stücken von Cage unaufgehoben. Denn selbst wenn die Bestimmung
der einzelnen Töne unabhängig von der komponierenden Person
stattfindet stattfindet, die Auswahl also absichtslos ist, so bleibt
die anfängliche Absicht bestehen, ein Stück zu erstellen.
Eine völlig absichtslose Musik kann nur dann entstehen, wenn
der Akt der Komposition ein völlig unbewußter ist. Im
Grunde besteht sie bereits in den umgebenden Geräuschen und
Schwingungen,im Rauschen der Bäume genauso wie in den monotonen
Rhythmen von Maschinen oder in den Schwingungen der Atome. Die Gefahr,
die den zufallsbedingten Kompositionen zu Grunde lag, wie im übrigen
allen vom Zen-Buddhismus beeinflußten Betrachtungen, war die
Gefahr einer zu abstrakten und abgehobenen Sichtweise. Eine gleichmütige,
gegenüber allem offene und nicht wertende Position führt
zu einer passiv akzeptierenden Haltung, die letztlich auch objektives
Unrecht nicht angeht sondern duldet. Oftmals wird dabei durch die
ausschließliche Konzentration auf den Prozeß der persönlichen
Weiterentwicklung die Wechselbeziehung zwischen innerer und äußerer
gesellschaftlicher Veränderung ignoriert.
Die Kompositionen und Konzerte von Cage entsprachen zumeist einer
vielschichtigen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten akustischer
Ausdrucksformen. So nutzte Cage für die Realisation von Variations
VII, das 1966 in einer Halle in New York aufgeführt wurde,
Geräuschquellen wie Toaster und Mixer, Impulsgeneratoren, Geigerzähler,
Radiogeräte und Fernsehapparate. Zudem waren an den Körpern
von vier MitarbeiterInnen Elektroden angebracht, welche die entsprechenden
Körperklänge wiedergaben. Hinzu kamen die Geräusche
von Plätzen außerhalb der Halle, darunter ein Vogelhaus
in einem Zoo, ein Restaurant und ein Busbahnhof, die durch Telefonverbindungen
direkt übermittelt wurden. Während der Aufführung
konnte sich das Publikum in der Halle frei bewegen und sich dadurch
nach Belieben einzelnen Geräuschquellen widmen. Beschränke
dich auf Geräusche, die während der Vorstellung entstehen
(über TV, Radio, Telefon, Mikrofon) / keine schon verarbeiteten
Geräusche / Geräusche aus der Luft fangen wie mit einem
Netz, vor allem die unhörbaren nicht verloren gehen lassen
/ ständige Quellen / keine Partitur keine Stimmen / vorhandene
Empfänger frei manipulieren / das sonst unhörbare hörbar
machen und keine Intention dazwischen schieben / einfach das Hören
erleichtern. (...)(7)
Das Stück Roaratorio ging von James Joyces Roman
Finnegans Wake aus. An den von Joyce aufgeführten
Orten ließ Cage Tonbandaufnahmen machen, die zusammen mit
irischen Volksliedern und neu zusammengesetzten Passagen aus dem
Originaltext zu einer Collage verbunden wurden. Alle auftretenden
Geräusche wurden dabei gleichbehandelt, wobei deren Position
innerhalb des Stückes durch Zufallsoperationen ermittelt wurden.
Ich wollte eine Musik machen, frei von Melodie und frei von
Harmonie und frei von Kontrapunkt - frei von musikalischer Theorie.
Ich wollte nicht, daß es Musik im Sinne von Musik wird, sondern
ich wollte das es Musik wird im Sinne von Finnegans Wake, daß
die Musik unmittelbar daraus hervorgeht.(8)
Wesentliche Elemente des Werkes von Cage, darunter die Einbeziehung
der Stille, des Zufallsprinzips und die gesellschaftspolitische
Ausrichtung, beinhaltete beispielhaft die Komposition Five
Hanau Silence, die Cage 1992 kurz vor seinem Tod in Zusammenarbeit
mit Claus und Wolfgang Sterneck konzipierte. Im Rahmen des Entstehungsprozesses
wurden durch Zufallsoperationen fünf Orte in Hanau ausgewählt,
an denen es an bestimmten, auf die gleiche Weise festgelegten Tagen
und Uhrzeiten zu Tonaufnahmen kam, die später miteinander verbunden
wurden. Das akustische Ergebnis erschien zusammen mit einem Buch
als Benefiz-Projekt für das Autonome Kulturzentrum Metzgerstraße,
einem besetzten Haus in Hanau, dem Cage auch die Komposition widmete.
Der Einfluß von Cage ging weit über den musikalischen
Bereich hinaus. So markierte eine 1952 in Black Mountain von Cage
initiierte Aufführung den Ausgangspunkt für die Happening-Bewegung
der sechziger Jahre: Durch die Lektüre von Artaud erfuhren
wir von der Idee, daß das Theater nicht auf einem Text basieren
muß, daß der Text nicht alle Handlungen vorschreiben
muß, so daß sich Klänge, Aktivitäten usw.
unabhängig voneinander entfalten können, ohne aufeinander
zu verweisen. Weder sollte der Tanz Ausdruck der Musik noch die
Musik Ausdruck des Tanzes sein. Beide konnten unabhängig voneinander
bestehen. Wir haben diesen Gedanken auf die Poesie, die Malerei
usw. und das Publikum ausgeweitet. Die Aufmerksamkeit wurde nicht
ausschließlich in eine bestimmte Richtung gelenkt. An einer
Wand des Saals wurde ein Film gezeigt, am anderen Ende wurden Dias
projiziert. In gewissen Zeitabschnitten, die ich Zeitklammern nannte,
konnten die Interpreten innerhalb bestimmter Grenzen machen, was
sie wollten. Robert Rauschenberg ließ Musik abspielen. David
Tudor spielte Klavier. Merce Cunningham und andere Tänzer bewegten
sich durch und um das Publikum herum. Über uns waren Rauschenbergs
weiße Bilder aufgehängt. Auf jedem Zuschauersitz befand
sich eine Tasse ohne eine Gebrauchsanweisung für das Publikum.
Manchmal wurde sie als Aschenbecher benutzt. Die Performance wurde
durch eine Art Ritual beendet, indem Kaffee in die Becher gegossen
wurde. (...)(9)
Cage bezeichnete sich selbst als Anarchist, wobei er auf dem Weg
zu einer freien Gesellschaft die auf einem Netz von sozialen
Nützlichkeiten basiert, immer wieder die Notwendigkeit
eines gewaltfreien gesellschaftlichen Wandels betonte, der von einem
Prozess innerer Weiterentwicklung ausgeht. In den Kompositionen
von Cage kamen dessen gesellschaftliche Vorstellungen nur in Ausnahmefällen
auf einer textlichen Ebene zum Ausdruck. Vorrangig zeigte sich beständig
im strukturellen Grundaufbau seiner Stücke das Ideal einer
herrschaftsfreien Gesellschaft, in der die Möglichkeit einer
freien Entfaltung zur Selbstverständlichkeit geworden ist und
sich damit auch neue Möglichkeiten der Kreativität eröffnen.
Charakteristisch war dabei insbesondere die Offenheit der Kompositionen,
die vielfach so konzipiert sind, dass sie bei jeder Aufführung
einen völlig neuen Charakter erhalten können. Darüber
hinausgehend eröffneten die Stücke in ihrer Gesamtheit
immer wieder den Weg zu einer neuen Art von Hörerlebnis bzw.
zu einem bewussteren Hören und darüber hinausgehend zu
einer bewussteren Wahrnehmung der umgebenden Entwicklungen. Auf
diesem Wege entfalten gerade auch die scheinbar unpolitischen Kompositionen
von Cage eine eigene tiefgreifende gesellschaftliche Dimension.
Wir brauchen eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach
Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, dass
heißt keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt
hat, selbst wenn es der Komponist oder der Dirigent
wäre. Bewegungsfreiheit ist die Grundlage dieser neuen Kunst
und dieser neuen funktionierenden Gesellschaft mit Menschen, die
ohne Anführer und Oberhaupt zusammenleben.(11)
(1998)
Anmerkungen:
1) Nono, Luigi / Musik und Revolution (1969). In: Stenzl,
Jürg (Hrsg.) / Luigi Nono: Texte - Studien zu seiner Musik.
(Atlantis). Zürich, 1975.
2) Nono, Luigi / Seminar über die Funktion der Musik heute
(1972). In: Stenzl / Nono. (Siehe 1).
3) Luigi Nono / Musik und Resistenza. (1963). In: Stenzl / Nono.
(Siehe 1).
4) Aus einem Interview mit Luigi Nono. In: Pauli, Hansjörg
(Hrsg.) / Für wenn komponieren Sie eigentlich? (Fischer). Frankfurt
am Main, 1971.
5) Cage, John / Autobiographische Selbst(er)findung im echolosen
Raum. (1989). In: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 5/91. Mainz,
1991.
6) Aus einem Interview mit John Cage. (1966). In: Kostelanetz, Richard
(Hrsg.) / John Cage. (Penguin Press). London, 1971.
7) Schöning, Klaus (Hrsg.) / John Cage - Roaratorio. (Athenäum-Verlag).
Königstein / Taunus, 1985.
8) John Cage zitiert in: Klüver, Billy / 9 Evenings: Theatre
and Engineering. In: Akademie der Künste und Berliner Festspiele
GmbH (Hrsg.) / Für Augen und Ohren. (Akademie der Künste).
Berlin, 1980.
9) John Cage zitiert in: Kostelanetz, Richard / John Cage im
Gespräch. (DuMont). Köln, 1989.
10) Cage, John und Charles, Daniel / Für die Vögel. (1970).
(Merve Verlag). Berlin, 1987.
11) Siehe 9).
Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck: Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
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