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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Erklärung des regionalen Plenums Hessen / Rhein-Main - November 1995:


DAS LEBEN WAGEN - LEBEN IM WAGEN

Gerichtet an all diejenigen, die sich durch Volkes Willen legitimiert wähnen, die zur Zeit bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse politisch zu verantworten, oder sich berufen fühlen, dieselben zu verbessern!!

Nicht erst seit Mitte der achtziger Jahre wurde in der damaligen Bundesrepublik das kollektive Wohnen in besetzten Häusern (Häuser, die für Wohnungszwecke wieder nutzbar gemacht wurden) durch eine zunehmend aggressive Räumungspolitik von Seiten des Staates bekämpft. Als Ausweichen und/oder Neubestimmung verstanden, fanden daraufhin erste Geländebesetzungen statt, die in mobilen Wagen eine Wiederbelebung des kollektiven Wohnens und Lebens ermöglichten.

Die Repressionen gegen die Menschen, die ihr Bedürfnis nach kollektivem Wohnen und Leben verwirklichen, müssen unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen globalen Angleichungs- und Umstrukturierungspolitik mitbetrachtet werden, die im Besonderen auch die Wohn-, Kultur- und Lebenswelt der Menschen im Blick hat (z.B. hohe Mieten, Eigentumswohnen, bestimmte Einkaufswohnstruktur, Sozial-"Hygiene", Entstehung von Stadtvierteln für Reiche usw.). Diese Politik dient den Profitinteressen innerhalb der herrschenden kapitalistischen Marktwirt-schaft.

Das aktuelle Gesicht dieser Marktwirtschaft ist im Zusammenhang mit dem Zerfall des "Ostblocks" Anfang der 90er Jahre zu sehen, der eine Verstärkung der Konkurrenzbedingungen in der verbliebenen "Marktwirtschafts-Welt" bis heute nach sich zieht. Das gilt sowohl direkt für die Beziehungen der Menschen untereinander, als auch indirekt für alle Organisationsebenen und institutionellen Einrichtungen - von der Gemeinde über das regionale Wirtschaftsgebiet, über den Nationalstaat bis hin zu den globalen Wirtschaftszentren (Nordamerika, EU-Europa, Ost- und Südost Asien).

Dieser scheinbar willkürliche Wettbewerb findet global gesehen unter der Spielregel des sogenannten Neo-Liberalismus statt, dem neuen/alten Wirtschaftsfreiheitsanspruch ohne Grenzen, unter dem soziale und teilweise auch ökologische Errungenschaften, Werte, Ansprüche vorbereitend als unmodern bezeichnet werden, um sie dann zu liquidieren. In EU-Europa findet in dieser Konkurrenz-Situation innerhalb der Städte und Gemeinden eine "Reformpolitik" statt, die eine postmoderne Arbeits-, Wohn- und Freizeitwelt hervorbringt.

Die Preise und Kosten steigen für alle Menschen, während die Löhne real sinken bzw. nur für einen kleinen Teil angehoben werden, dafür allerdings beträchtlich und völlig unverhältnismäßig (z.B. 200.000 DM Managermonatsgehalt). Der Zwang, seinen individuellen Lebensentwurf dieser "Modernisierungsspirale" anzupassen, steigt. Wer nicht mitmachen kann oder will, wird sozial, kulturell und politisch ins Abseits gedrängt. Bei-spiele der Folgen sind nicht mehr zu bezahlende Wohnungen, Vereinzelung, Verringerung der geistigen und künstlerischen Betätigungsfelder, sowie die zunehmende Kriminalisierung politisch Andersdenkender.

Für uns steht dagegen der Mensch mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen im Vordergrund, die im Einklang mit der übrigen Lebenswelt stehen sollten. Wir wollen eine Welt, in der sich der Mensch als Teil des Ganzen versteht, also die vorhandenen Reichtümer nicht als Eigentum betrachtet, sondern als Allgemeingut, und verantwortlich damit umgeht. Dazu zählt wie Mensch lebt, also wie unter anderem das Wohnen, das Ernähren, das Arbeiten, das Austauschen sich gestaltet. Wir wollen ein lustvolles Leben für alle, das auf einem solidarischen Miteinander von Mensch und Lebenswelt beruht.

Die Wagenplätze sind unsere Antwort gegen die herrschende, eindimensionale und zerstörerische Gesellschafts- und Weltmarktordnung. Konkret geht es uns um eine offene und trotzdem den individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen jeder/s Einzelnen voll Rechnung tragende Wohnform. Vielfältiger als in WGs, Häusern und Einzelwohnungen bieten unsere mobilen Wagen die Möglichkeit mit vielen verschiedenen Menschen zusammen zu leben und sich zu treffen, gemeinsam etwas aufzubauen und dabei noch ausreichend Rückzugsmöglichkeiten zu haben, möglichst in einer natürlichen Umgebung. Unser Zusammenleben ist so mit weniger Zwängen verbunden und bewusster, als in den konstruierten, fremdbestimmten Strukturen der ArchitektInnen und Städteplanerlnnen.

Dieses Zusammenleben heißt nicht Nebeneinanderherleben, sondern das Leben gemeinsam, phantasievoll und solidarisch zu gestalten, den Platz und eine solidarische Gemeinschaft z.B. durch offene Einrichtungen auch für andere erfahrbar zu machen. Eine besondere Voraussetzung hierfür bietet am Wagenplatz die gemeinsame Organisation eines "neuen" Alltags, der hier einen bewussten, schöpferischen Umgang erfordert (z.B. schaffen von sanitären Anlagen, Wasser, Strom, aber auch Landschaftsgestaltung, Anbau von Gemüse usw.). Das erfordert mehr Kontakt und Auseinandersetzung untereinander, als in vorgegebenen räumlichen Strukturen, wo sich das Zusammenleben oft auf die Organisation des Konsums beschränkt, und wo häufig die Kommunikationsschwelle für Außenstehende sehr viel höher liegt.

Gegenüber jedem Mauerwerk bieten unsere Wagen die Möglichkeit, Veränderungen vorzunehmen: Auf-, Aus- und Umbau der Wägen nach Bedarf; Mobilität für nur ein paar Meter, aber auch für die weite Ferne. Da die Änderungen der/des Einzelnen an einem Platz für alle Mitbewohnerinnen erfahrbar sind, fordert die individuelle Handlung sowohl die Reflexion des/der Einzelnen, als auch die der Gemeinschaft. Gleichzeitig führt diese als Anregung zu einem Prozess, der höchstens durch die Auflösung des Kollektivs beendet wird. Wir halten diese Art des Austauschs für wichtig, denn der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, gleichzeitig aber auch ein Individuum, das Zeit und Raum für sich selbst braucht: allein sein, aber nicht vereinzelt.

Im Wagen zu Leben ist ein Versuch, aus dem immer härter werdenden Kreislauf "Entfremdet arbeiten, um zu überleben, um für die entfremdete Arbeit zu leben" auszubrechen. Durch die Verringerung des Anteils entfremdeter Arbeit vergrößern sich die Möglichkeiten des sozialen und kulturellen Lebens.

Was die Arbeit im Kapitalismus angeht, so halten wir es für ein Unding, einen Großteil unseres Lebens mit dem Produzieren von "Produkten" zu verbringen, auf das die eigentlichen Herstellerlnnen selbst keinen Einfluss haben, womit oft Umweltzerstörungen verbunden sind und das Ganze hauptsachlich dem Profit und Nutzen Einzelner, und nicht Aller dient. Entsprechend sieht die Höhe des erworbenen Lohnes für die Arbeitenden aus, mit dem dann unter anderem die Mieten für Wohnungen, Häuser und Grund und Boden zu bezahlen sind.

Dies ist zu sehen vor dem Hintergrund der Geschichte, die zeigt, das die Eigentumsverhältnisse, wie sie sich heute darstellen, zumeist gewaltsam und kriminell - in jüngster Zeit auch spekulativ (was auch nicht besser ist) - zu Stande gekommen sind. Von unserem Standpunkt ausgehend sind Eigentums- und Besitzansprüche an Wohnungen und Häusern innerhalb der Gesellschaft solidarisch zu regeln, und das Land (die Erde) selbst gehört schon gar nicht dem Mensch allein.

Mit dem Leben im Wagen wollen wir keinen billigen Ausweg aus der fatalen WohnungsNOTpolitik anbieten. Die fortschreitende Entstehung einer gedrittelten Gesellschaft erweist sich eben nicht nur als soziale, sondern auch als kulturelle gesellschaftliche Polarisierung, in der unsere Phantasien, Träume und Wünsche gegen gleichgeschaltete, funktionale und zerstörerische Perspektiven stehen.

Für uns ist das Leben im Wagen nicht das Ende unserer Vorstellungen, aber ein Schritt, der zu einem Gegenentwurf gehört, und mit zur Demaskierung des sogenannten "normalen Lebens" beiträgt. Die Wagenplätze bieten uns zumindest teilweise den Raum zum praktischen Ausleben unserer Werte und Ideale und auch die Möglichkeit diese für andere erfahrbar zu machen. Entsprechend sind die Plätze zu Begegnungsstätten für viele Menschen geworden, deren Perspektiven anders aussehen, als die der totalen Konsum-Welt, bestehend aus Plastik, Computer und Genmanipulation.

In einer Gesellschaft, in der alles von Geld und Profitorientierung durchdrungen ist, ist dieser Versuch, so zu Wohnen und zu Leben mit vielen Widersprüchen verbunden. Dennoch - als Alternative bietet unser Weg mit all seinen Schwierigkeiten mehr Perspektiven, als tatenlos im ausbeuterischen unterdrückerischen und zerstörerischen Spiel gegen Mensch und Umwelt für Macht und Geld mitzutaumeln.

Die Wagenplätze sind als alternative Wohn- und Lebensform allgemein, sozial, kulturell und politisch anzuerkennen.

Rüsselsheim, im November 1995.


FORDERUNGSKATALOG AN DIE HESSISCHE LANDESREGIERUNG

Zur konkreten dauerhaften Umsetzung von Wohnen und Leben im Wagen / an Wagenplätzen ist es notwendig, dass die Kriminalisierung und soziale Achtung von Seiten des Staates und seiner behördlichen Einrichtungen auf-hört.

Um dies zu erreichen ist es für uns notwendig, entsprechende gesetzliche Absicherungen durchzusetzen und die politischen Instanzen mit allen Mitteln aufzufordern, diese endlich umzusetzen.

Dem folgenden Forderungskatalog kann vorausgesetzt werden, dass das Wohnen und Leben im Wagen / an Wagenplätzen ein solidarisches Miteinander in einer Art Allianzverhältnis zwischen den Menschen, sowie zwischen Mensch und seiner Umwelt einbezieht.

1. Jedwede Kriminalisierung und soziale Ächtung gegen das Wohnen und Leben im Wagen / an Wagenplätzen ist sofort zu beenden. Dazu ist zuallererst notwendig, dass
a) die Möglichkeit, mit einem Wagen ein Gelände zu beleben - gleich, ob Grundstücke sich in Privat-, Gemeinde-, Landes- oder Bundesbesitz befinden - für jeden Menschen garantiert ist;
b) die Gesetze des Baurechts für den Außenbereich usw. hierfür außer Kraft gesetzt werden, da unter anderem keine Flächenversiegelung vorgenommen wird.
(hier auch volle Autonomie der Bewohnerlnnen in Bezug auf Bauen am Wagen, Statik, Architektur, Terrassen als feste Bauten,...).

2. Die gesetzlichen Standards für die notwendige Infrastruktur (Strom, Wasser, Abwasser, sanitäre Anlagen, Müllabfuhr, Post- und Meldeadresse,...) sind gemäß den Forderungen und Bedürfnissen der Bewoh-nerlnnen
- besonders zu fördern (wie z.B. im sozialen Wohnungsbau auch) oder
- entsprechend außer Kraft zu setzen (also Ausnahmeregelungen zu treffen, wie sie z.B. für Aussiedlerhöfe gelten) oder
- alternative Lösungen zu akzeptieren und zu unterstützen.

3. Die Nutzung eines Geländes (in Bezug auf Anzahl, Beruf, Status, Zuzug,... der Bewohnerlnnen; Anzahl, Ausbau, Standort,... der Wägen; Gestaltung des Platzes; Veranstaltungen;...) bleibt der Selbstverwaltung der Bewohnerlnnen überlassen.

4. Der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse von verschiedenen (bereits bestehenden oder noch zu gründenden) Wagenplätzen ist in den einzelnen Städten und Gemeinden besondere Rechnung zu tragen, das heißt, dass mehreren Projekten dieser Art in einer Stadt auf den geforderten Geländen Raum zu verschaffen ist.

Der Forderungskatalog an die Hessische Landesregierung sowie die Erklärung des regionalen Plenums Hessen / Rhein-Main „DAS LEBEN WAGEN - WIR LEBEN IM WAGEN“ ist von folgenden Wagenplätzen unterzeichnet:

Babajaga
Jägertorstraße 179, 64289 Darmstadt.

Biegwald i.E.
Borsigallee 26a, 60388 Frankfurt am Main.

Diogenes
Hinter der Radrennbahn, 64285 Darmstadt.

Dorf Wagenstein
Leihgesternerweg 195, 35392 Gießen.

Kassel
Mombachstraße 3, 34127 Kassel.

Klabauta
Im tiefen See 65, 64293 Darmstadt.

Mainz
Hinterm Haus Mainusch, Staudingerweg 23a, 55128 Mainz.

Rad ab
Schlangenzahl 15, 35392 Gießen.

Rodenbach
c/o Matrax, Sternstraße 35, 63450 Hanau.

Sommerdamm
Am Sommerdamm, 65428 Rüsselsheim.

Tauringia
Forsthaus Triesch, 36214 Bauhaus.

Wagenmut
Neuhöfe, 35041 Marburg .

Wiesbaden
Freudenbergerstraße 212, 65201 Wiesbaden.

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