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Autonomia:
KEIMZELLEN
Dies soll der Versuch sein, ein Modell zu entwerfen. Ein Modell
nach dem für uns ein anderes Leben und die Entwicklung einer
autonomen Kultur vorstellbar wäre und anzustreben ist.
Modell kann einerseits heißen: abstraktes, kaltes Muster,
idealisiert und ohne Bezug zur Realität. Modell kann aber auch
heißen: ein gewisses Maß an Abstraktion und Idealisierung,
jedoch mit Ansätzen bei den eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten.
In der Umsetzung soll dies bedeuten: konsequente Weiterentwicklung
von bestehenden Strukturen, die zum Teil schon stärker waren,
von denen Keime aber immer noch existieren bzw. immer wieder neu
entstehen.
Wir wollen ein solches Modell formulieren, weil wir immer wieder
an uns selbst erleben, daß zähe Diskussionsprozesse,
Einzelinitiativen und mühsame Kleinarbeit ohne Zusammenhang
erscheinen. Eine Perspektive, die darin liegt, wird oft so winzig,
daß mensch der Resignation nahe kommt. Wenn es dann mal wieder
nicht sichtbar weitergeht, werden Gruppen aufgegeben. Dem das
bringt doch alles nichts zu verfallen liegt Einzelnen oft
näher als jedesmal neu bzw. erneut damit anzufangen Gruppenzusammenhänge
aufzubauen.
Ein Modell kann dieses Problem natürlich nicht lösen.
Es kann keine Auseinandersetzungen um unser Scheitern und Weiterkommen
ersetzen. Es kann aber helfen, gemessen an unseren Ansprüchen
und Utopien, eine Orientierung an einer möglichen Perspektive
neu oder wieder neu zu benennen.
Bedingung für das Funktionieren organisierter Strukturen sind
die einzelnen Menschen. Menschen, die in kollektiven Zusammenhängen
politische Identität und solidarisches menschliches Verhalten
als untrennbar miteinander verbunden sehen, sowie darüber hinaus
Menschen, die diese Vorbedingungen (kollektive Zusammenhänge
- politische Identität - solidarisches Verhalten) als Basis
für eine mögliche soziale Ausweitung autonomer Politik
begreifen.
Tatsache ist, daß abweichende und ungleichzeitige Sozialisation
uns zu verschiedenen Individuen mit jeweils eigenem Charakter gemacht
hat; mit Verhaltensweisen, die von dieser Gesellschaft geprägt
sind. Die Vielfalt und Verschiedenheit ist auf der einen Seite Quelle
der Auseinandersetzung, von gesellschaftlicher Bewegung, von Leben
überhaupt. Auf der anderen Seite verhindern kapitalistisch-industrielle
Normen wie Konkurrenz- und Hierarchiedenken, die uns auch anerzogen
und aufgezwungen worden sind, ein solidarisches Miteinander. Lern-,
Wissens- und Erfahrungsunterschiede sind immer vorhanden, sie sind
aber keine unveränderbare Bedingung, die zwangsläufig
zu Ansätzen von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen
führen müssen.
Deshalb muß es uns immer darum gehen, die Grenzen zwischen
den Dominanten und Dominierten einzureißen. Dabei
sind beide Seiten gefordert; beide müssen sich in diesem Prozeß
ernst nehmen und Verantwortlichkeit entwickeln. Grundstruktur für
diesen langwierigen Prozeß sind Gruppen, deren Mitglieder
sich gut kennen, aufeinander eingehen können und sich gemeinsam
organisieren: Kämpfende Kollektive als Keimzellen der neuen
Gesellschaft.
Kampf findet aber nicht nur auf der Ebene von Massenmilitanz oder
nächtlichen Aktionen statt, Alltagsorganisierung muß genauso wesentlicher Bestandteil autonomer Organisierung und Gegenmacht
sein. Auch wenn wir in diesem Text eine Aufteilung zwischen Alltagsorganisierung
als existenzieller Voraussetzung und politischer Organisierung machen,
so geht es uns im Grunde darum, die Trennung zwischen kollektiven
Lebens- und Widerstandsformen aufzuheben.
ALLTAGSGEMEINSCHAFTEN
Wir müssen alle in dieser kapitalistischen Gesellschaft in
irgendeiner Form unsere Existenz sichern, unseren Alltag organisieren.
Dabei unterliegen wir alle mehr oder weniger bestimmten Zwängen:
Schule, Lehre oder Uni, Sozial- und Arbeitsamt, befristete oder
Teilzeitjobs vom Sklavenhändler bis hin zur garantierten
Arbeit im Achtstundentag. Auch selbstverwaltete Betriebe, die in
ihren Ansätzen sicherlich richtig sind, unterliegen in dieser
Gesellschaft Marktzwängen und laufen von daher Gefahr, nur
in der Illusion selbstverwaltet zu sein.
Kollektive Alltagsorganisierung im Reproduktionsbereich begreifen
wir dagegen als Milderung des täglichen Zwangs zur Arbeit durch
verschiedene Formen von Wiederaneignung, gegenseitiger Hilfe und
Zusammenarbeit.
Unsere eigenen Erfahrungen in den letzten zehn Jahren haben uns
allerdings deutlich gemacht, daß auch wir immer mehr von gesellschaftlichen
Zwängen eingeholt werden von denen wir uns gerade lösen
wollten. Frühere Ansätze von gemeinsamen Lebens- und Wohnformen,
sowie die damit verbundenen Ansprüche sind in einigen Fällen
entweder von der Realität eingeholt oder immer weiter eingeschränkt
und letztlich aufgegeben worden.
Das Persönliche politisch, das Politische persönlich
machen war und ist ein Kernstück autonomer Identität.
Organisierung muß entsprechend darauf abzielen, den täglichen
Kampf besser zu bestehen, was gleichzeitig bessere Ausgangsmöglichkeiten
für die politische Arbeit schafft. Für uns müßte
das heißen: Anstrengungen zur Organisierung des Alltags nicht
als wenig lohnende Kraftakte anzusehen, sondern zur Verbesserung
unserer eigenen Lebenssituation, wie auch als wichtigen Bestandteil
autonomer Gegenmacht.
Mit den drastischen Kürzungen bzw. Streichungen der Soziallöhne
hat sich der Zwang zur Arbeit ziemlich verschärft. Diese Arbeit,
mit mehr oder meist weniger Identifikation ausgeführt, nimmt
einen wesentlichen Teil unserer Zeit in Anspruch. Unser Alltag,
unser Bewußtsein ist davon geprägt, Kraft und Energie
werden abgezogen und nicht selten werden wir darüber in die
Zwangsjacken gesellschaftlicher Abläufe gedrückt.
Abendliches Abhängen vor dem Fernseher, notwendige
häufig individualisierte Wochenenderholung und Konsumkompensation
sind nur beispielhaft Ausdrücke eines Entfremdungs- und Isolationsprozesses.
Von diesem sind wir vielfach selbst betroffen, was unsere Möglichkeiten
von vornherein erstickt, zumindest stark begrenzt, was ja auch das
Ziel dieser Zerstörungsstruktur ist.
Es fällt auf, daß die Verschärfung dieses Problems
meistens privatisiert, individualisiert angegangen wird. JedeR versucht
für sich oder höchstens noch mit den BeziehungspartnerInnen
so gut es geht damit klar zu kommen. Es scheint auch erstmal bequemer.
Intakte Wohngemeinschaften oder ähnliche Bezüge bestehen
kaum noch, politische Gruppenzusammenhänge werden mit solchen
Problemen nicht belastet und auch in engeren Freundschaften
sind Entfremdungsprozeße meist kein Thema. Es ist notwendig
Zusammenhänge neu zu schaffen oder wiederzubeleben, die gerade
diese uns täglich betreffende Problematik aufgreifen und miteinbeziehen.
Objektiv gesehen, sind die Möglichkeiten entsprechenden Wohnraum
für kollektive Wohnformen zu finden, total eingeschränkt.
Subjektiv gesehen gibt es schon im Vorfeld Ängste vor unklaren
Entwicklungen, zum Teil bestehen auch Unsicherheiten auf Grund von
schlechten Erfahrungen. Eigene Widersprüche im Zusammenleben
waren oft so groß geworden, daß sie als nicht lösbare
Probleme angesehen wurden.
Trotz alledem spüren die meisten von uns, daß es eigentlich
nicht anders geht, daß Alltagsgemeinschaften, Wohngemeinschaften
und intensive Gruppenzusammenhänge, die über das herkömmliche
Maß hinausgehen, unverzichtbare Bestandteile einer Perspektive
für ein anderes Lesen darstellen.
Persönliche Ängste, Psychos, Beziehungsprobleme, Mann-Frau-Strukturen
sind zwar auch in engen Gemeinschaften nicht unbedingt auf die Gruppe
übertragbar, können aber zumindest als allgemeine und
nicht nur individuelle Probleme erkannt und von daher auch anders
gelöst werden.
Der Arbeitszwang und finanzielle Probleme lassen sich mindern,
indem sozialstaatliche Einrichtungen gemeinsam genutzt werden, aber
auch indem Aneignungsaktionen verschiedenster Art (Schwarzfahren,
Klauen, Wohnungs- und Hausbesetzungen, ...) zusammen entwickelt
bzw. verbessert werden.
Dabei muß eine gemeinsame Kinderversorgung ermöglicht
werden, welche die Eltern von ihrer traditionellen Rolle zumindest
entlastet und dadurch versucht eine gemeinschaftliche Verantwortung
zu schaffen. Auch um den zwangsweisen Rückzug der Eltern ins
Private aufzuheben.
Natürlich wäre dies noch an unzähligen Beispielen
zu vertiefen. Vom gemeinsamen Lebensmitteleinkauf bis hin zum Anbau
im gepachteten Garten, vom Workshop zur Vermittlung handwerklicher
Fähigkeiten bis hin zum Auto-Pool. Der Fantasie sind keine
Grenzen gesetzt.
KLEINGRUPPE, PLENUM UND ZENTRUM
Ein weiterer Punkt wäre die Existenz von Räumen, die
gemeinsam getragen und genutzt werden, ein Kommunikations- und Kulturzentrum
oder wie auch immer mensch das nennen mag. Gemeint ist ein offener,
nicht kommerzieller Freiraum als lokale Möglichkeit vielfältiger
persönlicher, kultureller, politischer Initiativen.
Es wird darauf ankommen, unter uns ein Bewußtsein zu schaffen
(Verantwortlichkeit, Kontinuität, Identifikation), das es ermöglicht
vorhandene Bedürfnisse zu äußern bzw. umsetzen zu
können. Um letztendlich diesen Freiraum für Gruppen, Initiativen,
Veranstaltungen, Filme, Parties, Konzerte, Feste, Sport, Kindergruppe,
Volksküche, Öffentlichkeitsarbeit, Archiv, Kopier- und
Druckgeräte etc. etc. nutzen zu können und als Kommunikationszentrum
zu verankern. Als Anlaufpunkt für neue oder interessierte
Leute kann dieses Zentrum wieder zurück auf die gesamte Struktur
wirken. Von einer stabilen Grundlage ausgehend steckt darin eine
wirkliche Möglichkeit zur sozialen Ausweitung.
Eng verbunden, aber nicht notwendigerweise identisch mit bestehenden
Alltagsgemeinschaften bilden Kleingruppen die Kernstruktur für
eine politische Organisierung. Über längere gemeinsame
Erfahrungen und Diskussionsprozesse entsteht in den Kleingruppen
eine weitgehende Vertrauensbasis. In diesem Rahmen von wenigen,
vielleicht drei bis acht Leuten kann der Anspruch, ein politisches
Kollektiv selbstbewußter, verantwortlicher und gleichberechtigter
Individuen zu entwickeln, am ehesten umgesetzt werden. Indem sich
jedeR offen einbringen kann, ermöglicht die Intensität
der Auseinandersetzung inhaltliche und praktische Prozesse. Ein
Nebeneffekt ist dabei, daß Spitzel hier keine Chance haben.
Im Idealfall wären lokale Plenen erst die nächste Stufe
einer politischen Organisationsstruktur. In den Plenen müßte
die Arbeit der Kleingruppen zusammenfließen, danneben ermöglicht
es einen Informationsaustausch und die Koordination von Aktivitäten
und bildet einen Diskussionsrahmen für allgemeine und weiterführende
Einschätzungen.
Allerdings kann nur in seltenen Fällen davon ausgegangen werden,
daß sich solche Kleingruppen irgendwie finden. Eine stärkere
politische Sozialisation beginnt meistens über bestimmte Themen
und Aktionen, also gerade in diesen vorbereitenden Treffen und Plenen.
Entsprechend arbeiten in den Plenen, soweit solche regelmäßig
bestehen, viele Einzelpersonen mit, die nicht in kleineren Gruppen
organisiert sind.
Wir glauben allerdings, daß ab einer Gruppenstärke von
zehn bis fünfzehn Leuten bestimmte Auseinandersetzungen kaum
oder nur schwierig stattfinden können. Unsicherheiten können
in kleinen vertrauteren Gruppen wesentlich besser abgebaut werden,
Gespräche sind eingehender und offener. Gerade stillere Leute lernen sich mehr zuzutrauen und offener ihre Meinung darzulegen
wenn die Gruppe kleiner ist.
Angesichts einer mehr oder weniger natürlichen
Fluktuation, einem Kommen und Gehen, mit dem ein offenes Plenum
bis zu einem gewissen Maß leben muß, kann auch die inhaltliche
Diskussionsarbeit nicht in der Kontinuität und Genauigkeit
laufen, wie das in kleinen Gruppen möglich ist.
Bei praktischen Überlegungen wird diese Problematik noch deutlicher.
Eine Zwischenlösung hin zu den nötigen stabilen Kleingruppenstrukturen
wären bestimmte Arbeitsgruppen, die sich auch ohne weiteren
kontinuierlichen Anspruch zu spezifischen Themen einarbeiten, daran
genauer diskutieren, Flugblätter oder Veranstaltungen vorbereiten.
Ähnlich einer Kleingruppe könnte hier an bestimmten Themen
intensiv gearbeitet und dies dann ins Plenum eingebracht werden.
Über die Bearbeitung verschiedener inhaltlicher Themenfelder
im Plenum kommen wir dem Ziel, eine gesamtgesellschaftliche Einschätzung,
Widerstandsmöglichkeiten und gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten,
Stück für Stück näher. Öffentliche Veranstaltungsreihen,
eigene Flugblätter und Zeitungen könnten darauf aufbauen
und versuchen Inhalt und Praxis unserer Arbeit zu vermitteln.
Erst diese einigermaßen stabilen theoretischen Grundlagen
und halbwegs klaren praktischen Vorstellungen eröffnen uns
einen inhaltlichen Einfluß und eine praktische Mobilisierung,
also die Möglichkeit der politischen Ausweitung mit der allein
wir überhaupt erst zu einem politischen Faktor werden.
Wir halten diese beschriebene Grundstruktur, also Alltagsgemeinschaften
und politische Kleingruppen, Zentrum und Plenum, in ihrer lokalen
/ örtlichen Vernetzung für eine von uns vorrangig anzugehende
Aufgabe. Der Weg dahin ist kein linearer und es wäre falsch
einen Schritt zur absoluten Voraussetzung für einen anderen
zu machen. Vielmehr stehen diese Elemente in Wechselwirkung zueinander
und es eröffnen sich aus jedem kollektiven Schritt neue Möglichkeiten,
so kann das Eine auf dem Anderen aufbauen.
Die Struktur lebt gleichzeitig unabhängig jeglicher politischer
Konjunktur als gegenkulturelles Netzgeflecht mit stabilen Zusammenhängen
und handlungsfähigen Kernen, sowohl für die Einzelnen
als auch für den gemeinsamen Kampf.
Das wir die lokale Struktur als vorrangig bezeichnen hat absolut
nichts mit Lokalpatriotismus zu tun. Uns geht es um stabile Zusammenhänge
als Fundament für eine weitere regionale / überregionale
/ landesweite /
Organisierung. Die Funktion überregionaler
Treffen, zum Informationsaustausch, als Impulsgeber und Diskussionsplattform
oder für die Zusammenfassung bestehender Kräfte zu aktuellen
Kampagnen, ist damit keineswegs bestritten. Eine Umsetzung und Ausweitung
der Ergebnisse hängt aber wiederum von den lokalen Strukturen ab.
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