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Govert Derix:
PHILOSOPHIE UND AYAHUASCA
- Plädoyer für die Fortsetzung der Kritischen Theorie
mit anderen Mitteln -
Es ist eines der subtilen Dramen unserer Zeit, daß der Verfall
der traditionellen Religionen mit einer wachsenden Einsicht in die
Notwendigkeit religiöser Bewegungen einhergeht. Wir betrachten
die wissenschaftliche Entkräftung der wesentlichsten religiösen
Themen (die Existenz von Gott, das Leben nach dem Tod, bindende
Richtlinien für ethisches Verhalten) als eine Errungenschaft,
drohen dadurch aber blind zu werden für das, was jeder mit
offenen Augen sehen können muß, nämlich daß
eine Welt ohne religiösen Kontext letztlich der Mittel entbehrt,
um sich selbst in gute Bahnen zu leiten. Das Höhere ist erforderlich,
um das Niedrige auf Distanz zu halten. Wer für die Situation
der Welt ein allgemeines Gefühl zu entwickeln sucht, kann zu
der Schlußfolgerung kommen, daß eine eigentümliche
Form der Höhenangst mit einem diabolischen Verlangen nach der
Finsternis zusammenzufallen beginnt. Hedonismus, Egoismus und Kurzzeitdenken
bilden die übliche genetische Programmierung der Art Homo sapiens,
aber meist tritt dies erst so richtig schamlos ans Tageslicht in
Zeiten, da eine wachsende Mehrheit zu dem Schluß kommt, daß
die Sintflut sowieso schon längst begonnen hat. Im Licht der
überwältigenden Komplexität der Probleme unserer
Lebenswelt ist man beinahe geneigt, Sympathie für die einfache
Akzeptanz der Machtlosigkeit zu entwickeln, derer sich immer mehr
Menschen anheimgeben. Nach dem Tod Gottes und dem postmodernen Tod
des Subjekts war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand den Tod
des philosophisch-aktivistischen Diskurses verkünden würde;
die Ächtung der Kritischen Theorie vor einigen Jahren durch
Peter Sloterdijk fiel denn auch nicht aus heiterem Himmel. Fortan
müssen wir ohne die intellektuellen Strohhalme auskommen, die
uns vorhalten sollten, daß mit gesundem Menschenverstand und
kommunikativem Handeln noch etwas an der Art und Weise zu korrigieren
wäre, in welcher unsere Gesellschaft ihr Bestes tut, sich hoffnungslos
zu vergaloppieren.
Mir ist bewußt: diese Art zu sprechen ist nicht mehr in Mode.
Selbst in Frankfurt ist es leichter, sich intellektualistisch einzunebeln,
als Roß und Reiter zu nennen. Roß und Reiter nennen,
will in diesem Fall heißen: der Tatsache ins Auge blicken,
daß es immer schwieriger wird, über die Großen
Fragen zu sprechen, die nie soviel Aufmerksamkeit verdienten wie
in unserer Zeit. Die größte Frage ist die nach der Bestimmung
unserer individuellen und kollektiven Leben. Selten waren diese
Bestimmungen so unsicher, selten war es so schwierig, Antworten
darauf zu geben. Als wäre es, mit einem Augenzwinkern zu Wittgenstein,
ein Motto unserer Zeit, daß man über Dinge, die man doch
nicht ändern kann, besser schweigt.
Aber könnte es denn sein, daß dasjenige, worüber
man (sozusagen) nicht sprechen kann, mit dem im Zusammenhang steht,
was wir (so zu denken) nicht ändern können? Könnte
es sein, daß der Fatalismus unserer Zeit philosophische Wurzeln
hat und daß die Bekämpfung des Fatalismus beim Bloßlegen
dieser Wurzeln zu beginnen hat? Man könnte in diesem Zusammenhang
darauf hinweisen, daß einer der pessimistischsten Erfolgsautoren
dieser Zeit mit einiger Regelmäßigkeit auf die Bedeutung
der Religion einhämmert. Bereits in einem Interview im Jahre
1996 bekannte der französische Schriftsteller Michel Houellebecq:
»... wiewohl ich schmerzhaft klar die Notwendigkeit einer
religiösen Dimension sehe, bin ich selbst durch und durch areligiös.
Das Problem ist, daß keine einzige der bestehenden Religionen
mit dem allgemeinen Stand des Wissens vereinbar ist; was wir brauchen,
ist eine vollständig neue Ontologie. Die Probleme können
übertrieben intellektuell erscheinen; aber ich denke, daß
sie nach und nach konkretere Folgen zeitigen werden. Wenn auf dieser
Ebene nichts geschieht, hat die westliche Zivilisation meiner Meinung
nach nicht die geringste Chance.« (Die kalte Revolution, S.
170)
Wie nun aber gelangt man zu den Wurzeln dessen, worüber man
nicht sprechen darf und worüber gleichzeitig viel zu viel gesprochen
und geschrieben wird auf eine Weise, die uns immer weiter von unserem
Ziel entfernt, je mehr wir unser Bestes tun, uns dem Ziel anzunähern?
Als ich im Jahr 1990 in Brasilien den psychoaktiven Tee Ayahuasca
kennenlernte (ik schrijf naar de klassieke spelling), hatte ich
die Hoffnung aufgegeben, einen Ausweg aus den philosophischen Verstrickungen
zu finden. Der Tod Gottes und des Subjekts schien vervollständigt
vom Ableben meines eigenen philosophischen Erstaunens. Auch von
meinem religiösen Bewußtsein war nicht viel übrig.
Ich wußte, daß man Religion als eine Aktivität
des »sich erneut Verbindens« (re-ligare) zu begreifen
hatte, aber wäre ich damals gefragt worden »verbinden
womit?«, dann hätte ich die Neigung gezeigt, den Mantel
des Schweigens darüber zu decken. Man könnte sagen, daß
ich als studierter Philosoph unter der Überdosis verbaler Bemühungen
gebückt ging, die zwar alle »zu den Sachen selbst«
führen wollten, aber mit jeder Formulierung das anfängliche
Erstaunen weiter zu ersticken schienen.
Bis zu jenem Abend in Brasilien. Unter dem Einfluß des Amazonastees
eröffnete sich mir eine Wirklichkeit, deren Existenz ich nie
auch nur annehmen konnte. Ich kam in einen Zustand, den man vielleicht
am besten beschreiben kann als waches Träumen, ein Zustand,
in dem mein Gedächtnis phänomenale Formen annahm (mittlerweile
ist klar, daß Ayahuasca ein sehr geeignetes Instrument für
die Psychotherapie ist) und in dem ich Dinge und Ideen mit unerhörter
Klarheit wahrnehmen konnte. Es war, als blickte ich in einen Spiegel,
in dem Fragen und Antworten zusammenfielen. Die Geschichten über
den lapis philosophicus, den Stein (oder das Elixier) der Weisen,
hatte ich stets mit einem gewissen Mitleid links liegenlassen. Bis,
in der Tat, zu jenem Abend. Das Schönste ist vielleicht, daß
ich schon während dieser ersten Erfahrung zu vermuten begann,
daß ich einmal ein Buch schreiben würde, worin ich die
großen philosophischen Fragen über die Stellung des Menschen
im Kosmos auf eine radikal neue Weise angehen würde, nämlich
ausgehend von der Erfahrung mit diesem Tee, die mir das Wertvollste
zurückgab, was man sich als Philosoph und Mensch wünschen
kann: wahrhaftige Einsicht in sich selbst und in die Welt sowie
das Vermögen, beide mit Erstaunen zu erfahren.
Ich wurde an jenem Abend aufs neue mit einem Bereich verbunden,
in dem die Dinge eine einmalige selbständige Bedeutung haben
können. Ich lernte Ayahuasca bei der Religion der União
do Vegetal kennen, wo das Erleben des Tees als Einübung einer
Verbindungstechnik betrachtet wird. Später sollte ich erfahren,
daß zum Beispiel die Shipibo-Indianer behaupten, keine traditionelle
Religion zu benötigen, weil sie Ayahuasca trinken. Mit anderen
Worten: ich begann die Ayahuascaerfahrung als eine religiöse
Aktivität par excellence zu begreifen. Ayahuasca trinkend legt
man die Verbindung mit der Möglichkeitsbedingung für das
Leben auf dieser Seite der psychedelischen Schwelle. Der Spiegel,
den die Kritische Theorie der Gesellschaft vorhalten wollte, wird
ein praktischer Spiegel; unter Einfluß von Ayahuasca kann
eine kritisch-theoretische Haltung in kritische Praxis umschlagen.
Ayahuasca erleben ist ein Akt der Selbstbesinnung. In meinem Buch
komme ich zu dem Schluß, daß Ayahuasca als solches zusammenfällt
mit einer Kritik der psychedelischen Vernunft, das soll heißen:
der ayahuasqueiro kommt in einen Zustand quasi-autonomer Selbstbesinnung
auf die Art und Weise, in welcher er mit allem, was ihn umringt,
in Verbindung steht: die Welt, der Andere, seine eigensinnige Lebensspur
zwischen den Momenten seines Erscheinens und Verschwindens. Die
philosophischen Fragen nach den Grenzen unseres Wissens (was kann
ich wissen?), der Legitimität unserer Hoffnung (was darf ich
hoffen?) und den Zutaten eines gelungenen Lebens (was soll ich tun?),
wie Kant diese am Ende seiner Kritik der reinen Vernunft aus dem
Jahre 1781 formulierte, erhalten unter dem Einfluß von Ayahuasca
eine völlig neue Annäherung. Kant spornte uns an, mutig
zu sein beim Gebrauch unseres Verstands (»Sapere aude!«),
aber er warnte auch davor, daß das Verlassen der Insel unseres
Verstands nur falsche Spekulation und Irrtümer einbringt. Der
Ayahuasqueiro lernt jedoch, daß die Antworten auf Kants Fragen
vor allem gefunden werden können, indem man den Mut aufbringt,
sich auf den Ozean rings um die Verstandesinsel hinaus-zu-wagen,
zum Beispiel durch das Navigieren auf den unvergleichlichen Wellen
des legendarischen Tees.
Meine These ist, daß die Ayahuascaerfahrung der Philosophie
den Inhalt geben kann, wodurch sie ihr kritisches Potential zurückerhält.
Die kritische Praxis von Ayahuasca kann zu einer »Praxis des
psychedelischen Handelns« führen. Bei der União
do Vegetal erlebte ich regelmäßig, wie Diskussionen über
Lebensfragen unter dem Einfluß von Ayahuasca geführt
wurden und wie dabei das Wittgensteinsche Schweigen auf berechtigte
Weise gebrochen wurde, weil bedeutungsvolle Verbindungen mit Einsichten
gelegt wurden, die tatsächlich »der Fall« waren.
Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, die Kriterien, auf denen
man nach Jürgen Habermas eine »Theorie des kommunikativen
Handelns« fundieren muß, werden in einer Ayahuascasitzung
der União do Vegetal in einer Weise er- und durchlebt, daß
die Gesprächspartner tatsächlich bei den Dingen, Themen,
den Anderen und sich selbst sind. Philosophie und Religion reichen
einander die Hände in einem lebendigen Erstaunen. Liebe zur
Weisheit (Philosophie) und erneutes Verbinden (Religion) begreifen
einander als Komplemente ein und derselben Bewegung. Für den
Ayahuasqueiro ist das Kommunizieren des Tees eine fundamentale Handlung
des Verbindens; der Ayahuascameister ist eine Experte der Verbindungstechnik.
Kurz und gut: wir verfügen mit Ayahuasca über ein religiöses
Potential im eigentlichen Sinne womöglich genau das
Potential, mit dem wir dem subtilen Drama unserer Zeit den Spiegel
vorhalten können, was vielleicht hinreicht, um die narzißtischen
Reflexe vor sich selbst erschrecken zu lassen.
Kann die Erfahrung mit Ayahuasca jene Ontologie (Seinsphilosophie)
zeitigen, die sogar No-nonsense-Autoren wie Michel Houellebecq zufolge
so dringend erforderlich ist? Ja. Aber dann müssen wir durchaus
bereit sein, für eine ontologische oder metaphysische oder
nach Ansicht mancher mystische Erfahrung mit einer Substanz offen
zu sein, die bis zum heutigen Tage insbesondere durch die Philosophie
oft disqualifiziert wird, vielleicht weil die Philosophie selbst
Schwierigkeiten mit ihrem eigenen Anblick im Spiegel der Kritischen
Praxis hat. Eine Philosophie nach Ayahuasca müßte sich
Rechenschaft ablegen über die folgenden Tatsachen der Erfahrung:
- Es besteht ein Zustand, in dem ich meine Verbindungen mit dem
Anderen auf direkte Weise erfahren kann.
- In diesem Zustand kann ich mir der Beziehung zwischen dem mir
Eigenen und dem Anderen bewußt werden.
- In diesem Zustand kann ich mich selbst als eine Konstellation
von Eigenschaften erfahren, die zusammen einen einzigartigen Kern
(die persönliche Identität) zum Ausdruck bringen.
- Ich kann erfahren, was eine authentische Art und Weise ist, um
mit diesem Kern umzugehen. Auf eine mir eigene Weise kann ich aus
meiner spezifischen Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen
meine Bestimmung destillieren.
- Unter Einfluß von Ayahuasca kann ich entdecken, was gut
für mich ist.
- Unter Einfluß von Ayahuasca ist der Andere tatsächlich
erreichbar (contra das notwendige Scheitern menschlicher Beziehungen
gemäß den Existentialisten).
- Unter Einfluß von Ayahuasca kann ich bei den Dingen sein
und eine allgegenwärtige Verbundenheit erfahren (Überbrückung
Kluft Subjekt-Objekt).
- Eine Assemblee oder ein Parlament (Versammlung) verfügt mit
Ayahuasca über ein Mittel, um sich selbst in einer Sphäre
der Wahrhaftigkeit zu fundieren.
- Ayahuasca ist ein Mittel gegen Gleichgültigkeit. Die Bilder
in dem Spiegel lassen einen nie kalt.
Natürlich spricht einiges für das Argument, daß
man in der Ayahuascatrance immer sich selbst begegnet und daß
die gerade genannte Aufzählung aus der Sicht eines Philosophen
daher nicht zufällig ist. Dies läßt jedoch unberührt,
daß bei weitem die meisten Berichte von Ayahuascaerfahrungen
in solche philosophischen Konturen passen. Die Moral von Ayahuasca
ist, daß es zur Praxis zwingt. Weitergehen auf dem Pfad von
Ayahuasca bedeutet ipso facto, daß man zu einem »good
housekeeper« für die eigene Gesundheit und für die
Lebenswelt wird, in der diese Gesundheit zu gedeihen vermag. Man
könnte beinahe geneigt sein zu behaupten, daß Ayahuasca
ein letztes Mittel gegen die Gleichgültigkeit ist, die es so
schwierig macht, die Großen Fragen auf die Agenda zu setzen
und im Licht der individuellen und kollektiven Bestimmungen zu beantworten.
Natürlich: diese Art von Extrapolationen ist äußerst
naiv. Aber dann: wer aus einer fernen Zukunft auf die Entwicklungen
in unserer Zeit zurückblickt, könnte die übliche
Kurzzeitpolitik als das schwerwiegendste Beispiel von Kurzsichtigkeit
ansehen. Wie ist es denn möglich, daß eine Generation,
die zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage ist, sich selbst
zu begreifen, und die die Mittel hat, die Welt vernünftig einzurichten,
dies doch nicht tut? Könnte dies mit einem Mangel an Verbundenheit
und an der adäquaten Verbindungstechnik zusammenhängen?
In dem Kapitel »Wozu Drogen?« des Buches Weltfremdheit
analysiert der Philosoph Peter Sloterdijk, wie die Entwicklung unserer
Zivilisation mit dem Auseinandergehen von Rausch und Kult einhergeht.
»Moderne Menschen sind Leute, die sich vor Offenbarungen in
Sicherheit gebracht haben« (S. 137), behauptet er, und man
kann hinzufügen, daß der Mangel an Offenbarungen in unserer
modernen Gesellschaft durchaus der hauptsächlichste Faktor
von Unsicherheit sein kann. Und in der Tat lesen wir: »Nur
aus der Tiefe des Mitwissens verbünden sich Menschen zum gemeinsamen
Leben ...« (S. 159). Die wesentlichste Offenbarung während
meiner Erfahrungen bei der brasilianischen União do Vegetal
war genau dieses Teilen einer tiefen Verbundenheit, mit uns selbst,
mit dem Anderen, mit den geteilten und individuellen Bestimmungen.
Psychedelikaguru Terence McKenna bezeichnete solche Erfahrungen
als Geburtsrecht. Wirklich ist man nicht vollständig Mensch,
wenn man nicht zumindest ein Mal von der Möglichkeit der psychedelischen
Erfahrung Kenntnis genommen hat. Gleichzeitig beginnen wir zu erahnen,
was einer Gesellschaft fehlen kann, die diese aussichtsreiche Terra
incognita der psychedelischen Erfahrung unter den Teppich kehren
will oder höchstens als bedenklichen Zeitvertreib toleriert.
Genau wie in dem Roman Eiland von Aldous Huxley könnte das
verbindende Ritual und der rite de passage im Zentrum der sozialen
und vielleicht sogar politischen Realität stehen. Wiederum
bin ich der Erste zuzugeben, daß dies unrealistisch ins Blaue
geschwatzt ist. Und doch wird die Weigerung, über solche Dinge
zu schweigen, stets hartnäckiger. It's either this world or
the next, lautet eine gefeierte Aussage von John Osbornes angry
young man. Paraphrasierend könnte man behaupten, daß
wir der Welt des Anderen immer mehr benötigen, um zu verhindern,
daß diese Art fatalistischer Alternativen an den Tag tritt.
Um so tragischer ist es, daß das zentrale Gebot des psychedelischen
Geburtsrechts (seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß
zu leben) immer häufiger der Gegenstand eines rechtlichen Verbots
ist, welches genau besehen einen integralen Teil des menschlichen
Daseins ausschließen will. Leicht verkürzt könnte
man behaupten, daß ein eventuelles Verbot von Ayahuasca auf
das Verbieten eines der wertvollsten Korrektive hinausliefe, über
welches die Menschheit, wie marginal auch immer, noch verfügt.
Zum Abschluß zum eigentlichen Thema dieses Nachmittags. Wie
verhalten sich Ayahuasca und Konsum zueinander? Wie ist die rituelle
Verwendung von Ayahuasca in einem konsumtiven Kontext zu deuten?
Ich muß bekennen, daß ich dies als Ayahuasqueiro-Philosoph
keine einfache Frage finde. Einerseits vertraue ich darauf, daß
sich Ayahuasca selbst beschützt und daß selbst rein rekreativer
Gebrauch in einer Erfahrung mit religiösen Dimensionen mündet.
Andererseits begreife ich, daß immer eine eigensinnige Beziehung
zwischen dem Spiegel und dem, was er reflektiert, besteht. Der Komponist
Ludwig van Beethoven hatte in seiner letzten Lebensphase einen eingerahmten
Text über die Eleusinischen Mysterien an prominentem Platze
auf seinem Schreibtisch zu stehen: »Ich bin, was ist / Ich
bin alles, was ist, was war, und was seyn wird, kein sterblicher
Mensch hat meinen Schleier aufgehoben. / Er ist einzig von ihm selbst,
und diesem Einzigen sind alle Dinge ihr Daseyn schuldig.«
Dies ist die Art von Texten, über die man, vor allem auch im
Ayahuascarausch, endlos meditieren kann. In einem neueren Buch über
Beethovens letzte Jahre suggeriert der Musikologe Maynard Solomon,
was geschieht, wenn man den Schleier doch aufhebt. Er zitiert dafür
eine Passage von Henry Thoreau, der beschreibt, wie ein Philosoph
einen Zipfel des Schleiers des göttlichen Standbilds lüpft:
»... and still the trembling robe remains raised, and I gaze
upon as fresh a glory as he did, since it was I in him that was
then so bold, and it is he in me that now reviews the vision.«
(Late Beethoven, S. 69-70)
Alles wird in gewissem Sinne durch sich selbst betrachtet, in einem
»timeless moment« (Huxley), der nur auf unsere Teilnahme
wartet und der dank unserer individuellen Entscheidungen evolviert.
Dies ist die Essenz des Spiegels von Ayahuasca und all jenen anderen
authentischen Erfahrungen, die dieses Geburtsrecht der condition
humaine für uns in petto hat. »Der Augenblick, an dem
die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich
prolongieren«, behauptete Theodor W. Adorno, der Gründer
des Instituts für Sozialforschung hier in Frankfurt in seiner
Negativen Dialektik (S. 15) aus dem Jahre 1966. Fortan können
wir diesen Augenblick jedoch praktisch vitalisieren. Denn in der
Tat: »Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden.«
(S. 66) Wenn Ayahuasca sich selbst beschützt, dann genau wegen
dieser Unauslöschlichkeit. Künftig geht das subtile Drama
unserer Zeit mit dem Wissen eines nicht korrumpierbaren Trosts und
Kraft einher, womit wir die Kritische Theorie in der Gestalt fortsetzen
können, die sie selbst immer weniger anzustreben wagte, nämlich
die einer kritischen Praxis, die zur Selbstbesinnung und zum selbstbewußen
Gestalten der ursprünglichen Bestimmungen anspornt. Es bleibt
natürlich sonderbar, daß dieser Aufruf stets lauter ertönt
auf der Grundlage einer Erfahrung aus dem fernen Amazonasgebiet.
»Allein erst die äußerste Ferne wäre die Nähe;
Philosophie ist das Prisma, das deren Farbe auffängt.«
(S. 66). Eigentlich sollte man nach solchen Schlußworten schweigen.
Gleichzeitig ist es sehr verführerisch, sie als Auftakt für
eine Philosophie zu interpretieren, die die Ayahuascaerfahrung als
Möglichkeit akzeptiert, um das naive, aber darum nicht weniger
ursprüngliche Ziel näher zu bringen, nämlich die
Einrichtung einer besseren Welt.
Govert Derix, 6. Oktober 2004
(Übersetzung: Thomas Hartwig)
Vortrag auf dem Symposium »Ritual
und Konsumgesellschaft, am Beispiel der psychedelischen Substanz
Ayahuasca« (Frankfurt a. M., 6. Oktober 2004). Anläßlich
der Präsentation der deutschen Ausgabe von "Ayahuasca.
Een kritiek van de psychedelische rede" (Nachtschatten Verlag)
im Rahmen der Frankfurter Buchmesse und der Drogen- und Suchtwoche
Frankfurt.
Dank an Govert Derix für die Erlaubnis zur Veröffentlichung im Archiv Sterneck.net.
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