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					Oscar Wilde 
						 
						DAS STERNENKIND 
						 
						Es waren einmal zwei arme Holzfäller, die gingen ihres Weges 
						heim durch einen großen Tannenwald. Es war Winter und eine 
						bitterkalte Nacht. Dick lag der Schnee am Boden und auf den Ästen 
						der Bäume. Wo sie gingen, knickte der Frost links und rechts 
						die kleinen Zweige, und als sie zur Bergquelle kamen, siehe! da 
						hing sie reglos in der Luft, denn der Eiskönig hatte sie geküsst. 
						 
						So kalt war es, dass selbst die Tiere und Vögel nicht wussten, 
						was sie davon halten sollten. 
						 
						»Hu!« knurrte der Wolf, als er mit eingezogenem Schwanz 
						durch das Dickicht humpelte.  
						 
						»Das ist ja ein geradezu widernatürliches Wetter. Warum 
						kümmert sich die Regierung nicht darum?« »Twiet, 
						twiet, twiet!« zwitscherten die grünen Hänflinge. 
						»Die alte Erde ist tot, und man hat sie in ihrem weißen 
						Leilach aufgebahrt.« 
						 
						»Die Erde will Hochzeit halten, und dies ist ihr Brautkleid«, 
						raunten die Turteltauben einander zu. Ihre kleinen blassroten Füße 
						waren ganz erfroren, aber sie hielten es für ihre Pflicht, 
						die Umstände in einem romantischen Licht zu betrachten. 
						 
						»Unsinn!« heulte der Wolf »Ich sage euch, an all 
						dem ist nur die Regierung schuld, und wenn ihr mir nicht glaubt, 
						fresse ich euch.« Der Wolf hatte einen von Grund auf praktischen 
						Sinn und war nie um ein gutes Argument verlegen. 
						 
						»Nun, ich für mein Teil«, sagte der Specht, der 
						ein geborener Philosoph war, »ich mache mir nichts aus analysierenden 
						Betrachtungen. Wenn etwas soundso ist, dann ist es so, und gegenwärtig 
						ist es grässlich kalt.« 
						 
						Grässlich kalt war es zweifellos. Die kleinen Eichhörnchen, 
						die im Innern der großen Föhre wohnten, rieben ständig 
						ihre Nasen aneinander, um sich warm zu halten, und die Kaninchen 
						kringelten sich in ihren Löchern zusammen und wagten nicht 
						einmal, zum Einstieg hinauszuschauen. Die einzigen, die sich über 
						die Kälte zu freuen schienen, waren die großen Uhus. 
						Ihr Gefieder war ganz steif vom Rauhreif, aber das machte ihnen 
						nichts aus, und sie rollten ihre großen gelben Augen und riefen 
						einander durch den Wald zu: »Tu-witt! Tu-hu! Tu-witt! Tu-hu! 
						Welch herrliches Wetter haben wir!« 
						 
						Weiter und weiter gingen die beiden Holzfäller, wobei sie kräftig 
						auf ihre Finger hauchten und mit ihren mächtigen, eisenbeschlagenen 
						Stiefeln auf den zusammengebackenen Schnee stampften. Einmal versanken 
						sie in einer tiefen Schneewehe und kamen so weiß heraus wie 
						Müller, wenn die Steine mahlen, und einmal rutschten sie auf 
						dem harten, glatten Eis des gefrorenen Sumpfwassers aus, und das 
						Reisig fiel aus ihren Bündeln, und sie mussten es auflesen 
						und wieder zusammenbinden, und einmal glaubten sie schon, sie hätten 
						den Weg verloren, und eine Riesenangst packte sie, da sie wussten, 
						dass der Schnee grausam ist gegen solche, die in seinen Armen einschlafen. 
						Doch sie vertrauten auf den guten heiligen Martin, der über 
						alle Wanderer wacht, und gingen in ihrer Spur zurück und bewegten 
						sich umsichtig, und am Ende erreichten sie den Saum des Waldes und 
						erblickten weit drunten in dem Tal zu ihren Füßen die 
						Lichter des Dorfes, in dem sie wohnten. So überglücklich 
						waren sie über ihre Errettung, dass sie lauthals lachten, und 
						die Erde erschien ihnen wie eine Blume aus Silber und der Mond wie 
						eine Blume aus Gold. 
						 
						Doch nachdem sie gelacht hatten, wurden sie traurig, da sie ihrer 
						Armut gedachten, und der eine von ihnen sagte zu dem anderen: »Warum 
						war uns so vergnügt zumute, da doch das Leben für die 
						Reichen da ist und nicht für solche wie wir? Besser wir wären 
						im Wald vor Kälte gestorben oder ein wildes Tier hätte 
						uns angefallen und umgebracht.« 
						 
						»Wahrhaftig«, antwortete sein Gefährte, »manchen 
						ist viel gegeben und anderen wenig. Die Ungerechtigkeit hat die 
						Welt aufgeteilt, und nichts als die Sorge ist uns in gleichem Maße 
						beschieden.« 
						 
						Doch während sie einander ihr Elend klagten, geschah etwas 
						Seltsames. Vom Himmel fiel ein sehr heller und schöner Stern. 
						Er glitt seitlich vom Himmel herab, vorbei an den anderen Sternen, 
						und als sie ihn staunend beobachteten, schien es ihnen, als sinke 
						er hinter einer Weidengruppe nieder, die, keinen Steinwurf entfernt, 
						an einer kleinen Schafbürde stand. 
						 
						»Ei! Da liegt ein Topf voll Gold für den, der ihn findet«, 
						riefen sie, und sie machten sich auf und rannten, so begierig waren 
						sie nach dem Gold. 
						 
						Und der eine lief schneller als sein Gefährte und war ihm voraus 
						und bahnte sich seinen Weg durch die Weiden und kam auf der anderen 
						Seite heraus, und siehe, da lag wirklich etwas Goldenes im Schnee. 
						Er eilte hin, bückte sich und legte die Hände darauf, 
						und es war ein Mantel aus Goldgewebe, kunstvoll mit Sternen durchwirkt 
						und in viele Falten gelegt. Und er rief seinem Gefährten zu, 
						er habe den Schatz gefunden, der vom Himmel gefallen, und als sein 
						Gefährte herbeigekommen war, setzten sie sich in den Schnee 
						und lockerten die Falten des Mantels, um die Goldstücke zu 
						teilen. Aber ach, kein Gold war darin, kein Silber noch überhaupt 
						irgendein Schatz, sondern nur ein kleines, schlafendes Kind. 
						 
						Und der eine von ihnen sagte zu dem anderen: »Das ist ein 
						bitteres Ende unserer Hoffnung, uns ist kein Glück zuteil geworden, 
						denn was nützt einem Menschen ein Kind? Wir wollen es hier 
						lassen und unseres Weges gehen, denn wir sind arm und haben eigene 
						Kinder, deren Brot wir nicht einem anderen geben können.« 
						 
						Doch sein Gefährte antwortete ihm: »Nein, es wäre 
						übel getan, ließen wir das Kind hier, dass es im Schnee 
						umkommt, und obgleich ich so arm bin wie du und viele Münder 
						zu stopfen und nur wenig im Topf habe, will ich es doch mit nach 
						Hause nehmen, und mein Weib soll für das Kind sorgen.« 
						 
						Ganz behutsam hob er also das Kind auf und hüllte es in den 
						Mantel, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen, und 
						ging seines Weges den Hügel hinab zum Dorf, während sich 
						sein Gefährte höchlich verwundene über seine Torheit 
						und Weichherzigkeit. 
						 
						Und als sie zum Dorf kamen, sagte sein Gefährte zu ihm: »Du 
						hast das Kind, also gib mir den Mantel, denn es ist recht und billig, 
						dass wir teilen.« 
						 
						Doch er antwortete ihm: »Nein, denn der Mantel ist weder mein 
						noch dein, sondern gehört einzig und allein dem Kinde«, 
						und er wünschte ihm einen guten Weg und ging zu seinem eigenen 
						Hause und klopfte an. 
						 
						Und als seine Frau die Tür öffnete und sah, dass ihr Mann 
						unversehrt zu ihr zurückgekommen war, legte sie die Arme um 
						seinen Hals und küsste ihn und nahm das Reisigbündel vom 
						Rücken und bürstete den Schnee von seinen Stiefeln und 
						hieß ihn eintreten. 
						 
						Er aber sagte zu ihr: »Ich habe im Wald etwas gefunden und 
						habe es dir mitgebracht, damit du es hütest«, und er 
						rührte sich nicht von der Schwelle. 
						 
						»Was ist es?« rief sie. »Zeig es mir, denn das 
						Haus ist leer, und wir brauchen vieles.« Und er schlug den 
						Mantel zurück und zeigte ihr das schlafende Kind. 
						 
						»Meinje, lieber Mann!« klagte sie. »Haben wir 
						nicht eigene Kinder, dass du unbedingt noch einen Wechselbalg an 
						unsern Herd bringen musst? Und wer weiß, ob er uns nicht Unglück 
						bringt? Und wie sollen wir ihn warten?« Und sie war zornig 
						auf ihn. 
						 
						»Nein, es ist ein Sternenkind«, antwortete er, und er 
						erzählte ihr, auf wie seltsame Weise er es gefunden hatte. 
						 
						Doch sie wollte sich nicht besänftigen lassen, sondern verlachte 
						ihn und zürnte und sprach: »Unsere Kinder darben, und 
						da sollen wir das Kind eines anderen füttern? Wer sorgt denn 
						für uns? Und wer gibt uns Nahrung?« 
						 
						»Nicht so, Gott sorgt selbst für die Sperlinge und speist 
						sie«, antwortete er. 
						 
						»Sterben nicht im Winter die Sperlinge vor Hunger?« 
						fragte sie. »Und ist es jetzt nicht Winter?« Der Mann 
						gab keine Antwort, rührte sich aber nicht von der Schwelle.  
						 
						 
						Und ein scharfer Wind vom Walde her fuhr durch die offene Tür 
						und ließ sie zittern, und es schauderte sie, und sie sagte 
						zu ihm: »Willst du nicht die Tür schließen? Ein 
						scharfer Wind fährt ins Haus, und ich friere.« 
						 
						»Fährt nicht immer ein scharfer Wind in ein Haus, in 
						dem ein hartes Herz wohnt?« fragte er. Und die Frau antwortete 
						nicht, sondern kroch näher ans Feuer. 
						 
						Und nach einer Weile drehte sie sich um und sah ihn an, und ihre 
						Augen waren voll Tränen. Und er kam geschwind herein und legte 
						ihr das Kind in die Arme, und sie küsste es und legte es in 
						ein Bettchen, in dem das jüngste ihrer eigenen Kinder schlief 
						Und am Morgen nahm der Holzfäller den wunderlichen goldenen 
						Mantel und legte ihn in eine große Truhe, und seine Frau nahm 
						eine Bernsteinkette, die das Kind um den Hals trug, und legte sie 
						ebenfalls in die Truhe. 
						 
						So wurde das Sternenkind mit den Kindern des Holzfällers aufgezogen 
						und saß mit ihnen am selben Tisch und war ihr Spielgefährte. 
						Und Jahr für Jahr ward es schöner anzusehen, so dass alle, 
						die im Dorf wohnten, sich verwundenen, denn sie waren dunkel und 
						schwarzhaarig, der Knabe aber war weiß und fein wie aus Elfenbein 
						geschnitten, und seine Locken glichen den Blütenkränzen 
						der Osterglocke. Auch seine Lippen waren wie Blütenblätter 
						einer roten Blume, und seine Augen waren wie Veilchen an einem Strom 
						klaren Wassers, und sein Leib glich der Narzisse auf einem Felde, 
						wohin der Schnitter nicht kommt. 
						 
						Doch seine Schönheit verdarb ihn. Denn er wurde hoffärtig 
						und grausam und eigensüchtig. Die Kinder des Holzfällers 
						und die anderen Kinder im Dorf verachtete er und sagte von ihnen, 
						sie seien niederer Herkunft, während er hochgeboren sei, da 
						er von einem Stern abstamme, und er machte sich zum Herrn über 
						sie und nannte sie seine Diener. Kein Mitleid hatte er mit den Armen 
						oder mit solchen, die blind oder verkrüppelt oder auf andere 
						Weise leidend waren, sondern warf Steine nach ihnen und jagte sie 
						hinaus auf die Straße und hieß sie ihr Brot anderswo 
						erbetteln, so dass niemand außer den Geächteten zweimal 
						in das Dorf kam, Almosen zu erbitten. Wahrlich, er war wie einer, 
						der in die Schönheit verliebt ist, und pflegte über die 
						Schwachen und Missgestalten zu spotten, und im Sommer, wenn die 
						Winde sanft waren, lag er an dem Quell im Obstgarten des Priesters 
						und blickte nieder auf das Wunder seines Antlitzes und lachte vor 
						Freude, die ihm seine Schönheit bereitete. 
						 
						Oft schalten ihn der Holzfäller und sein Weib und sagten: »Wir 
						handelten an dir nicht so, wie du an denen handelst, die trostlos 
						sind und niemanden haben, der ihnen beisteht. Warum bist du so grausam 
						gegen alle, die Mitleid brauchen?« 
						 
						Oft schickte der alte Priester nach ihm und versuchte, ihn die Liebe 
						zu allen lebenden Geschöpfen zu lehren, und sprach zu ihm: 
						»Die Fliege ist dein Bruder. Tu ihr nichts zuleide. Die wilden 
						Vögel, die durch den Wald schwärmen, haben ihre Freiheit. 
						Fange sie nicht zu deinem Vergnügen mit der Schlinge. Gott 
						hat die Blindschleiche und den Maulwurf erschaffen, und ein jedes 
						hat seinen Platz. Wer bist du, dass du Leid in Gottes Welt bringst? 
						Selbst das Vieh auf dem Felde preiset lhn.« 
						 
						Doch das Sternenkind achtete ihrer Worte nicht, sondern blickte 
						finster und höhnte und ging zurück zu seinen Gefährten 
						und führte sie an. Und seine Gefährten folgten ihm, denn 
						er war schön und leichtfüßig und konnte tanzen und 
						pfeifen und musizieren. Und wohin auch das Sternenkind sie führte, 
						dahin folgten sie ihm, und was er sie auch tun hieß, das taten 
						sie. Und wenn er mit einem scharfen Rohr dem Maulwurf die trüben 
						Augen durchbohrte, dann lachten sie, und wenn er nach dem Aussätzigen 
						mit Steinen warf, lachten sie gleichfalls. Und in allen Dingen beherrschte 
						er sie, und sie wurden so hartherzig wie er. 
						 
						 
						Nun kam eines Tages ein armes Bettelweib durch das Dorf. Ihre Kleider 
						waren zerrissen und zerlumpt, und ihre Füße bluteten 
						von dem holprigen Weg, den sie gewandert war, und sie befand sich 
						in einem sehr schlimmen Zustand. Und da sie müde war, setzte 
						sie sich unter eine Kastanie, um auszuruhen. 
						 
						Doch als das Sternenkind sie sah, sagte es zu seinen Gefährten: 
						»Seht nur! Da sitzt ein schmutziges Bettelweib unter dem schönen, 
						grünbelaubten Baum. Kommt, wir wollen sie von dort verjagen; 
						denn sie ist hässlich und widerwärtig.« 
						 
						Also ging er näher und warf mit Steinen nach ihr und verhöhnte 
						sie, und sie sah ihn mit entsetzten Augen an und wandte nicht den 
						Blick von ihm. Und als der Holzfäller, der ganz in der Nähe 
						auf einem Hof Holz hackte, sah, was das Sternenkind tat, lief er 
						hin und schalt ihn und sprach: »Wahrlich, du bist hartherzig 
						und kennst kein Erbarmen, denn was hat dir diese arme Frau Böses 
						getan, dass du sie auf solche Weise behandelst?« 
						 
						Und das Sternenkind wurde rot vor Zorn und stampfte mit dem Fuß 
						auf und sagte: »Wer bist du, dass ich dir Rechenschaft geben 
						sollte über mein Tun? Ich bin nicht dein Sohn, dass ich dir 
						gehorchen müsste.« 
						 
						»Da sprichst du wahr«, antwortete der Holzfäller, 
						»dennoch habe ich mich deiner erbarmt, als ich dich im Walde 
						fand.« Und als die Frau diese Worte hörte, stieß 
						sie einen lauten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Und der Holzfäller 
						trug sie in sein Haus, und sein Weib kümmerte sich um sie, 
						und als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, setzten sie ihr zu essen 
						und zu trinken vor und luden sie ein, sich's bequem zu machen. 
						 
						Aber sie wollte weder essen noch trinken, sondern fragte den Holzfäller: 
						»Sagtest du nicht, der Knabe wurde im Wald gefunden? Und war 
						das nicht heute vor zehn Jahren?« 
						 
						Und der Holzfäller antwortete: »Ja, im Wald habe ich 
						ihn gefunden, und das war heute vor zehn Jahren.« 
						 
						»Und welche Kennzeichen fandest du an ihm?« rief sie. 
						»Trug er nicht eine Bernsteinkette um den Hals? War er nicht 
						gehüllt in einen Mantel aus Goldgewebe, mit Sternen bestickt?« 
						 
						»Wahrhaftig«, erwiderte der Holzfäller, »es 
						war so, wie du sagst.« Und er holte den Mantel und die Bernsteinkette 
						aus der Truhe, darin sie lagen, und zeigte sie ihr. 
						 
						Und als sie die beiden Dinge erblickte, weinte sie vor Freude und 
						sagte: »Er ist mein kleiner Sohn, den ich im Wald verlor. 
						Ich bitte dich, rufe ihn schnell, denn auf der Suche nach ihm habe 
						ich die ganze Welt durchwandert.« 
						 
						Also gingen der Holzfäller und sein Weib hinaus und riefen 
						das Sternenkind und sprachen zu ihm: »Geh ins Haus, dort wirst 
						du deine Mutter finden, die dich erwartet.« 
						 
						So lief er hinein, von Staunen und großer Freude erfüllt. 
						Doch als er jene erblickte, die dort wartete, lachte er höhnisch 
						und sagte: »Nun, wo ist meine Mutter? Denn ich sehe hier niemanden 
						als dies garstige Bettelweib.« 
						 
						Und die Frau antwortete ihm: »Ich bin deine Mutter.« 
						 
						»Du bist toll, so zu reden«, rief das Sternenkind zornig. 
						»Ich bin nicht dein Sohn, denn du bist eine Bettlerin und 
						hässlich und in Lumpen. Deshalb scher dich fort von hier und 
						lass mich nie wieder dein abscheuliches Gesicht sehen.« 
						 
						»Nicht so, du bist wirklich mein kleiner Sohn, den ich im 
						Walde gebar«, rief sie, und sie fiel auf die Knie und streckte 
						die Arme nach ihm aus. »Die Räuber stahlen dich von meiner 
						Seite und überließen dich dem Tod«, sagte sie leise, 
						»aber ich erkannte dich, sobald ich dich erblickte, und die 
						Kennzeichen habe ich ebenfalls erkannt, den Mantel aus Goldgewebe 
						und die Bernsteinkette. Deshalb bitte ich dich, komm mit mir, denn 
						die ganze Welt habe ich auf der Suche nach dir durchwandert. Komm 
						mit mir, mein Sohn, denn ich brauche deine Liebe.« 
						 
						Doch das Sternenkind rührte sich nicht von der Stelle, sondern 
						verschloss die Türen seines Herzens gegen sie, und es war kein 
						Laut zu hören als das schmerzliche Weinen der Frau. 
						 
						Und endlich sprach er zu ihr, und seine Stimme war hart und unfreundlich. 
						»Wenn du in Wahrheit meine Mutter bist«, sagte er, »so 
						wärest du besser fortgeblieben und nicht hierher gekommen, 
						mich in Schande zu bringen, da ich glaubte, ich sei das Kind eines 
						Sternes und nicht einer Bettlerin Kind, wie du mir erzählst. 
						Deshalb scher dich fort von hier und lass mich dich nie wieder sehen.« 
						 
						»Ach, mein Sohn«, rief sie, »willst du mich nicht 
						küssen, ehe ich gehe? Denn ich habe viel erlitten, dich zu 
						finden.« 
						 
						»Nein«, sagte das Sternenkind, »du bist zu widerwärtig 
						anzusehen, und lieber als dich wollte ich die Natter oder die Kröte 
						küssen.« 
						 
						Da stand die Frau auf und ging bitterlich weinend fort in den Wald, 
						und als das Sternenkind sah, dass sie gegangen war, freute sich 
						der Knabe und lief zurück zu seinen Spielgefährten, um 
						mit ihnen zu spielen. 
						 
						Doch als sie ihn kommen sahen, verlachten sie ihn und sagten: »Ei, 
						du bist garstig wie die Kröte und ekelhaft wie die Natter. 
						Scher dich fort, denn wir wollen dich nicht mit uns spielen lassen«, 
						und sie jagten ihn aus dem Garten. 
						 
						Und das Sternenkind blickte finster und sprach zu sich: >Was 
						soll das bedeuten, was sie zu mir sagen? Ich will zum Wasserquell 
						gehen und hineinschauen, und er wird mir von meiner Schönheit 
						sprechen.< 
						 
						So ging er zum Wasserquell und schaute hinein, und siehe, sein Gesicht 
						glich dem Gesicht einer Kröte, und sein Körper war schuppig 
						wie eine Natter. Und er warf sich nieder in das Gras und weinte 
						und sprach zu sich: >Wahrlich, das ist über mich gekommen 
						wegen meiner Sünde. Denn ich habe meine Mutter verleugnet und 
						sie davongejagt und bin hochmütig und grausam gegen sie gewesen. 
						Deshalb will ich gehen und in der ganzen Welt nach ihr suchen, und 
						ich will nicht rasten, ehe ich sie gefunden habe.< 
						 
						Und die kleine Tochter des Holzfällers kam zu ihm und legte 
						ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Was macht es schon, 
						wenn du deine Wohlgestalt verloren hast? Bleib bei uns, und ich 
						will nicht über dich spotten.« 
						 
						Und er antwortete ihr: »Nein, ich bin grausam gegen meine 
						Mutter gewesen, und zur Strafe dafür wurde mir dies Unheil 
						zuteil. Deshalb muss ich von hier fortgehen und durch die Welt wandern, 
						bis ich sie finde und ihre Vergebung erlange.« 
						 
						So lief er fort in den Wald und rief nach seiner Mutter, dass sie 
						zu ihm komme, erhielt aber keine Antwort. Den ganzen Tag rief er 
						nach ihr, und als die Sonne unterging, legte er sich auf einem Lager 
						von Blättern zum Schlaf nieder, und die Vögel und anderen 
						Tiere flohen vor ihm, denn sie gedachten seiner Grausamkeit, und 
						er blieb allein, bis auf die Kröte, die ihn belauerte, und 
						die träge Natter, die vorbeiglitt. 
						 
						Und am Morgen stand er auf und pflückte ein paar herbe Beeren 
						von den Bäumen und aß sie und nahm heftig weinend seinen 
						Weg durch den großen Wald. Und bei jedem, den er traf, erkundigte 
						er sich, ob er vielleicht seine Mutter gesehen habe. 
						 
						Zu dem Maulwurf sprach er: »Du kannst unter die Erde gehen. 
						Sag mir, ist meine Mutter dort?« 
						 
						Und der Maulwurf antwortete: »Du hast mir die Augen geblendet. 
						Wie sollte ich es wissen?« 
						 
						Zu dem Hänfling sprach er: »Du kannst über die Wipfel 
						der hohen Bäume fliegen und kannst die ganze Welt sehen. Sag 
						mir, kannst du meine Mutter sehen?« 
						 
						Und der Hänfling antwortete: »Du hast mir zu deinem Spaß 
						die Flügel beschnitten. Wie sollte ich fliegen?« 
						 
						Und zu dem kleinen Eichhörnchen, das in der Föhre wohnte 
						und einsam war, sprach er: »Wo ist meine Mutter?« 
						 
						Und das Eichhörnchen antwortete: »Die meine hast du umgebracht. 
						Willst du jetzt auch die deine umbringen.« 
						 
						Und das Sternenkind weinte und beugte den Kopf und bat Gottes Geschöpfe 
						um Vergebung und ging weiter durch den Wald auf der Suche nach dem 
						Bettelweib. Und am dritten Tag kam er zum anderen Ende des Waldes 
						und ging hinab in die Ebene. 
						 
						Und wenn er durch die Dörfer kam, verhöhnten ihn die Kinder 
						und warfen Steine nach ihm, und die Bauern wollten ihn nicht einmal 
						im Kuhstall schlafen lassen, damit er nicht den Brand über 
						das gespeicherte Korn bringe, so garstig war er anzusehen, und ihre 
						Tagelöhner jagten ihn fort, und da war niemand, der Mitleid 
						mit ihm hatte. Auch konnte er nirgendwo etwas von der Bettlerin 
						erfahren, die seine Mutter war, obgleich er drei Jahre lang durch 
						die Welt wanderte und obgleich ihm häufig war, als sähe 
						er sie vor sich auf der Straße, und er nach ihr rief und hinter 
						ihr her lief, bis die scharfen Kiesel das Blut aus seinen Füßen 
						springen ließen. Aber er vermochte sie nicht einzuholen, und 
						die am Weg wohnten, verneinten stets, sie oder eine, die ihr glich, 
						gesehen zu haben, und machten sich lustig über seinen Kummer. 
						 
						Drei Jahre lang wanderte er durch die Welt, und es gab in der Welt 
						weder Liebe noch Herzensgüte, noch Barmherzigkeit für 
						ihn, sondern es war genauso eine Welt, wie er sie sich in den Tagen 
						seiner großen Hoffart geschaffen hatte. 
						 
						Und eines Tages kam er an das Tor einer Stadt mit starken Mauern, 
						die an einem Fluss stand, und ob er gleich müde war und sich 
						die Füße wundgelaufen hatte, ging er doch darauf zu, 
						um einzutreten. Aber die Soldaten, die Wache standen, senkten ihre 
						Hellebarden über den Eingang und fragten ihn unfreundlich: 
						»Was willst du in dieser Stadt?« 
						 
						»Ich suche meine Mutter«, antwortete er, »und 
						ich bitte euch, mich durchzulassen, denn vielleicht befindet sie 
						sich in dieser Stadt.« Aber sie verlachten ihn, und einer 
						von ihnen schüttelte seinen schwarzen Bart und setzte seinen 
						Schild nieder und sprach: »Wahrhaftig, deine Mutter wird sich 
						nicht freuen, wenn sie dich sieht, denn du bist hässlicher 
						als die Kröte im Sumpf oder die Natter, die im Moor kriecht. 
						Scher dich fort. Scher dich fort. Deine Mutter wohnt nicht in dieser 
						Stadt.« 
						 
						Und ein anderer, der ein gelbes Banner in der Hand hielt, sagte 
						zu ihm: »Wer ist deine Mutter, und warum suchst du sie?« 
						 
						Und er antwortete: »Meine Mutter ist eine Bettlerin, so wie 
						ich ein Bettler bin, und ich habe sie übel behandelt, und ich 
						bitte euch, mich durchzulassen, damit ich ihre Vergebung erlangen 
						kann, falls sie in dieser Stadt weilt.« Aber sie wollten nicht 
						und stachen ihn mit ihren Spießen. 
						 
						Und als er sich weinend abwandte, kam einer, dessen Rüstung 
						mit goldenen Blumen inkrustiert war und auf dessen Helm ein geflügelter 
						Löwe kauerte, und erkundigte sich bei den Soldaten, wer Einlass 
						begehrt habe. Und sie sagten ihm: »Es ist ein Bettler und 
						einer Bettlerin Kind, und wir haben ihn davongejagt.« 
						 
						»Nein«, rief er lachend aus, »wir wollen das garstige 
						Geschöpf als Sklaven verkaufen, und sein Preis soll der Preis 
						für einen Humpen süßen Weines sein.« 
						 
						Und ein alter Mann mit einem bösen Gesicht, der vorbeikam, 
						rief aus: »Für diesen Preis will ich ihn kaufen«, 
						und als er den Preis gezahlt hatte, nahm er das Sternenkind bei 
						der Hand und führte den Knaben in die Stadt. 
						 
						Und nachdem sie durch viele Straßen gegangen waren, kamen 
						sie an eine kleine, in eine Mauer eingelassene Tür, die ein 
						Granatapfelbaum überdachte. Und der alte Mann berührte 
						die Tür mit einem Ring aus geschnittenem Jaspis, und sie tat 
						sich auf, und sie gingen fünf eherne Stufen hinab in einen 
						Garten voll schwarzem Mohn und grünen Kruken aus gebranntem 
						Ton. Und der alte Mann entnahm seinem Turban ein Tuch aus gemusterter 
						Seide und verband dem Sternenkind die Augen und trieb den Knaben 
						vor sich her. Und als ihm die Binde von den Augen genommen war, 
						sah sich das Sternenkind in einem Verlies, das durch eine Laterne 
						aus Horn erhellt war. 
						 
						Und der Alte setzte ihm auf einem Brett ein wenig schimmliges Brot 
						vor und sagte: »Iss«, und in einem Becher ein wenig 
						Brackwasser und sagte: »Trink«, und als der Knabe gegessen 
						und getrunken hatte, ging der Alte hinaus und verschloss hinter 
						sich die Tür und sicherte sie mit einer Eisenkette. 
						 
						Und am Morgen kam der Alte, der in Wahrheit der abgefeimteste aller 
						Zauberer in Libyen war und seine Kunst von einem gelernt hatte, 
						der in den Grabgewölben am Nil wohnte, zu ihm herein und blickte 
						ihn finster an und sprach: »In einem Wald nahe dem Tor dieser 
						Stadt der Ungläubigen liegen drei Stücke Gold. Eines ist 
						von weißem Gold, das zweite von gelbem Gold, und das Gold 
						des dritten ist rot. Heute sollst du mir das Stück weißen 
						Goldes holen, und wenn du es nicht herbringst, werde ich dich mit 
						hundert Streichen schlagen. Mach dich geschwind davon, und bei Sonnenuntergang 
						werde ich dich an der Gartentür erwarten. Sich zu, dass du 
						das weiße Gold bringst, oder es wird dir übel ergehen, 
						denn du bist mein Sklave, und ich habe dich um den Preis für 
						einen Humpen süßen Weines gekauft.« Und er verband 
						dem Sternenkind die Augen mit dem Tuch aus gemusterter Seide und 
						führte den Knaben durch das Haus und durch den Mohngarten und 
						die fünf ehernen Stufen hinauf. Und nachdem er die kleine Tür 
						mit seinem Ring geöffnet hatte, schob er ihn auf die Straße. 
						 
						Und das Sternenkind ging zum Tor hinaus aus der Stadt und kam zu 
						dem Wald, von dem ihm der Zauberer erzählt hatte. 
						 
						Nun war dieser Wald von außen sehr schön anzusehen und 
						schien voll singender Vögel und süßduftender Blumen 
						zu sein, und das Sternenkind betrat ihn frohen Herzens. Doch seine 
						Schönheit nützte ihm wenig, denn wohin er auch ging, wuchsen 
						Sträucher und Büsche mit scharfen Dornen aus dem Boden 
						empor und schlossen ihn ein, und böse Nesseln stachen ihn, 
						und die Distel durchbohrte ihn mit ihren Dolchen, so dass er arge 
						Pein litt. Auch konnte er nirgendwo das Stück weißen 
						Goldes finden, von dem der Zauberer gesprochen hatte, obgleich er 
						vom Morgen bis zum Mittag und von Mittag bis Sonnenuntergang danach 
						suchte. Und bei Sonnenuntergang wandte er bitterlich weinend sein 
						Gesicht heimwärts, da er wusste, welches Los seiner wartete. 
						 
						 
						Doch als er den Saum des Waldes erreicht hatte, vernahm er aus dem 
						Dickicht einen Schrei wie von einem, der in Not ist. Und seinen 
						eigenen Kummer vergessend, lief er zurück zu der Stelle und 
						sah einen kleinen Hasen, der in einer von Jägerhand aufgestellten 
						Falle gefangen war. 
						 
						Und das Sternenkind hatte Mitleid mit ihm und befreite ihn und sagte 
						zu ihm: »Ich bin selber nur ein Sklave, dennoch kann ich dir 
						die Freiheit schenken.« 
						 
						Und der Hase antwortete ihm und sprach: »Du hast mir fürwahr 
						die Freiheit geschenkt, und was soll ich dir zum Dank dafür 
						geben?« 
						 
						Und das Sternenkind sagte: "Ich suche nach einem Stück 
						weißen Goldes, aber ich kann es nirgendwo finden, und wenn 
						ich es meinem Herrn nicht bringe, wird er mich schlagen.« 
						»Komm mit mir«, sagte der Hase, »ich werde dich 
						hinführen, denn ich weiß, wo es verborgen ist und zu 
						weichem Zweck.« Also ging das Sternenkind mit dem Hasen, und 
						siehe, im Spalt einer mächtigen Eiche erblickte er das Stück 
						weißen Goldes, das er suchte. Und er war voller Freude und 
						ergriff es und sagte zu dem Hasen: »Den Dienst, den ich dir 
						geleistet habe, hast du mir viele Male gelohnt, und die Freundlichkeit, 
						die ich dir erwies, hast du mir hundertfach vergolten.« 
						 
						»Nicht so«, antwortete der Hase, »wie du an mir 
						tatest, so habe ich an dir getan«, und er lief flink davon, 
						und das Sternenkind wanderte der Stadt zu. 
						 
						Nun hockte aber am Stadttor einer, der aussätzig war. Über 
						das Gesicht hing ihm eine Kapuze aus grauem Leinen, und durch die 
						Sehlöcher funkelten seine Augen wie rotglühende Kohlen. 
						Und als er das Sternenkind kommen sah, schlug er auf einen Holznapf 
						und rasselte mit seiner Schelle und rief ihn an und sprach: »Gib 
						mir ein Geldstück, oder ich muss Hungers sterben. Denn sie 
						haben mich aus der Stadt geworfen, und da ist niemand, der sich 
						meiner erbarmt. « 
						 
						»Ach«, rief das Sternenkind, »ich habe nur ein 
						einziges Geldstück in meinem Beutel, und wenn ich es meinem 
						Herrn nicht bringe, wird er mich schlagen, denn ich bin sein Sklave.« 
						 
						Aber der Aussätzige flehte ihn an und bat ihn inständig, 
						bis sich das Sternenkind erbarmte und ihm das Stück weißen 
						Goldes gab. 
						 
						Und als der Knabe zum Hause des Zauberers kam, öffnete ihm 
						der Zauberer und holte ihn herein und fragte ihn: »Hast du 
						das Stück weißen Goldes?« Und das Sternenkind antwortete: 
						»Ich habe es nicht.« Da fiel der Zauberer über 
						den Knaben her und schlug ihn und setzte ihm ein leeres Brett vor 
						und sagte: »Iss«, und einen leeren Becher und sagte: 
						»Trink«, und warf ihn wieder in das Verlies. 
						 
						Und am Morgen kam der Zauberer zu ihm und sprach: »Wenn du 
						mir heute nicht das Stück gelben Goldes bringst, so werde ich 
						dich ganz gewiss als meinen Sklaven behalten und dir dreihundert 
						Hiebe geben.« 
						 
						Also ging das Sternenkind in den Wald, und den ganzen Tag suchte 
						der Knabe nach dem Stück gelben Goldes, aber nirgendwo konnte 
						er es finden. Und bei Sonnenuntergang setzte er sich nieder und 
						begann zu weinen, und während er noch weinte, kam der kleine 
						Hase zu ihm, den er aus der Falle befreit hatte. Und der Hase fragte 
						ihn: »Warum weinst du? Und wonach suchst du im Wald?« 
						 
						Und das Sternenkind antwortete: »Ich suche nach einem Stück 
						gelben Goldes, das hier verborgen ist, und wenn ich es nicht finde, 
						wird mein Herr mich schlagen und als Sklave behalten.« 
						 
						»Folge mir«, rief der Hase, und er lief durch den Wald, 
						bis er zu einem Wassertümpel kam. Und am Grunde des Tümpels 
						lag das Stück gelben Goldes. 
						 
						»Wie soll ich dir danken?« sagte das Sternenkind. »Denn 
						siehe, dies ist das zweite Mal, dass du mir geholfen hast.« 
						 
						»Nicht doch, du hast dich zuerst meiner erbarmte, erwiderte 
						der Hase und lief geschwind davon. 
						 
						Und das Sternenkind nahm das Stück gelben Goldes und steckte 
						es in seinen Beutel und eilte der Stadt zu. Doch der Aussätzige 
						sah den Knaben kommen und lief ihm entgegen und kniete nieder und 
						rief: »Gib mir ein Geldstück, oder ich werde Hungers 
						sterben.« 
						 
						Und das Sternenkind sprach zu ihm: »Ich habe in meinem Beutel 
						nur ein Stück gelben Goldes, und wenn ich es meinem Herrn nicht 
						bringe, wird er mich schlagen und als seinen Sklaven behalten.« 
						 
						Aber der Aussätzige flehte ihn so inständig an, dass sich 
						das Sternenkind seiner erbarmte und ihm das Stück gelben Goldes 
						gab. 
						 
						Und als er zum Hause des Zauberers kam, öffnete ihm der Zauberer 
						und fragte ihn: »Hast du das Stück gelben Goldes?« 
						Und das Sternenkind antwortete ihm: »Ich habe es nicht.« 
						Da fiel der Zauberer über den Knaben her und schlug ihn und 
						belud ihn mit Ketten und warf ihn wieder in das Verlies. 
						 
						Und am Morgen kam der Zauberer zu ihm und sprach: »Wenn du 
						mir heute das Stück roten Goldes bringst, werde ich dich freilassen; 
						bringst du es aber nicht, so werde ich dich wahr und wahrhaftig 
						erschlagen.« 
						 
						Also ging das Sternenkind in den Wald, und den ganzen Tag suchte 
						der Knabe nach dem Stück roten Goldes, konnte es jedoch nirgendwo 
						finden. Und am Abend setzte er sich nieder und weinte, und während 
						er noch weinte, kam der kleine Hase zu ihm. 
						 
						Und der Hase sprach zu ihm: »Das Stück roten Goldes, 
						das du suchst, befindet sich in der Höhle hinter dir. Deshalb 
						weine nicht mehr, sondern sei fröhlich.« 
						 
						»Wie soll ich dir nur danken«, rief das Sternenkind, 
						»denn siehe, dies ist das dritte Mal, dass du mir geholfen 
						hast!« 
						 
						»Nicht doch, du hast dich zuerst meiner erbarmt«, antwortete 
						der Hase und lief geschwind davon. 
						 
						Und das Sternenkind trat in die Höhle und fand in ihrer äußersten 
						Ecke das Stück roten Goldes. Das steckte der Knabe in seinen 
						Beutel und eilte der Stadt zu. Und da ihn der Aussätzige kommen 
						sah, stellte er sich mitten auf die Straße und rief ihn an 
						und sprach: »Gib mir das rote Goldstück, oder ich muss 
						Hungers sterben«, und wieder erbarmte sich das Sternenkind 
						seiner und gab ihm das Stück roten Goldes und sagte: »Deine 
						Not ist größer als meine.« Doch das Herz war ihm 
						schwer, denn er wusste, welch schlimmes Los seiner wartete. 
						 
						 
						Doch siehe, als er durch das Stadttor ging, verneigten sich die 
						Wachen vor ihm und huldigten ihm und sprachen: »Wie schön 
						ist unser Gebieter!«, und eine große Schar Bürger 
						folgte ihm und rief: »Wahrlich, niemand auf der ganzen Welt 
						ist so schön!«, weshalb das Sternenkind weinte und zu 
						sich sprach: >Sie verhöhnen mich und achten nicht meines 
						Elends.< Und so gewaltig war der Zusammenstrom des Volkes, dass 
						der Knabe die Richtung verlor und sich schließlich auf einem 
						Platz sah, wo eines Königs Palast stand. 
						 
						Und das Tor des Palastes tat sich auf, und die Priester und die 
						hohen Würdenträger der Stadt kamen ihm eilends entgegen, 
						und sie demütigten sich vor ihm und sprachen: »Du bist 
						unser Gebieter, den wir erwarteten, und der Sohn unseres Königs.« 
						 
						Und das Sternenkind antwortete ihnen und sprach: »Ich bin 
						keines Königs Sohn, sondern das Kind einer armen Bettlerin. 
						Und warum sagt ihr, ich sei schön, da ich doch weiß, 
						dass ich übel anzuschauen bin?« 
						 
						Da hob jener, dessen Rüstung mit goldenen Blumen inkrustiert 
						war und auf dessen Helm ein geflügelter Löwe kauerte, 
						einen Schild empor und rief: »Wie kann mein Gebieter sagen, 
						er sei nicht schön?« 
						 
						Und das Sternenkind blickte hinein, und siehe, sein Antlitz war 
						wie einstmals, und seine Wohlgestalt war ihm wiedergegeben, und 
						er sah in seinen Augen, was er nie zuvor darin gesehen hatte. 
						 
						Und die Priester und die hohen Würdenträger knieten nieder 
						und sprachen zu ihm: »Es wurde uns einst prophezeit, dass 
						am heutigen Tage jener kommen würde, der über uns herrschen 
						soll. Deshalb geruhe unser Gebieter, diese Krone und dies Zepter 
						entgegenzunehmen und in seiner Gerechtigkeit und Gnade König 
						über uns zu sein.« 
						 
						Er aber antwortete ihnen: »Ich bin dessen nicht wert, denn 
						ich habe die Mutter verleugnet, die mich gebar, und ich darf nicht 
						rasten, ehe ich sie gefunden und ihre Vergebung erlangt habe. Deshalb 
						lasst mich gehen, denn ich muss wieder durch die Welt wandern und 
						darf hier nicht verweilen, ob ihr mir auch die Krone und das Zepter 
						darbietet.« Und als er gesprochen hatte, wandte er sein Gesicht 
						von ihnen ab und der Straße zu, die zum Stadttor führte, 
						und siehe, in der Menge, die sich um die Soldaten drängte, 
						erblickte er die Bettlerin, die seine Mutter war, und an ihrer Seite 
						stand der Aussätzige, der am Wegrand gesessen hatte. 
						 
						Und ein Schrei der Freude löste sich von seinen Lippen, und 
						er lief hin und kniete nieder und küsste die Wunden an den 
						Füßen seiner Mutter und benetzte sie mit seinen Tränen. 
						Er neigte das Haupt in den Staub, und schluchzend, als sollte ihm 
						das Herz brechen, sprach er zu ihr: »Mutter, in der Stunde 
						meiner Hoffart habe ich dich verleugnet. Nimm mich auf in der Stunde 
						meiner Demut. Mutter, ich gab dir Hass. Gib du mir Liebe. Mutter 
						ich stieß dich zurück. Empfange du nun dein Kind.« 
						Aber die Bettlerin antwortete ihm nicht. 
						 
						Und er streckte die Hände aus und umfing die weißen Füße 
						des Aussätzigen und sprach zu ihm: »Dreimal habe ich 
						mich deiner erbarmt. Heiße meine Mutter nur einmal zu mir 
						sprechen.« Aber der Aussätzige antwortete ihm nicht. 
						 
						Und wieder schluchzte er und sagte: »Mutter, mein Leiden ist 
						größer, als ich es ertragen kann. Lass mir deine Vergebung 
						zuteil werden und lass mich zurückkehren in den Wald.« 
						Und die Bettlerin legte ihm die Hand aufs Haupt und sprach: »Steh 
						auf«, und der Aussätzige legte ihm die Hand aufs Haupt 
						und sagte ebenfalls: »Steh auf.« 
						 
						Und er stand auf und blickte sie an, und siehe, sie waren ein König 
						und eine Königin. 
						 
						Und die Königin sprach zu ihm: »Dies ist dein Vater, 
						dem du geholfen hast.« 
						 
						Und der König sprach: »Dies ist deine Mutter, deren Füße 
						du in deinen Tränen gebadet hast.« 
						 
						Und sie fielen ihm um den Hals und küssten ihn und führten 
						ihn in den Palast und kleideten ihn in schöne Gewänder 
						und setzten ihm die Krone aufs Haupt und legten ihm das Zepter in 
						die Hand, und er herrschte über die Stadt am Strom und war 
						ihr Gebieter. Große Gerechtigkeit und Gnade bezeigte er gegen 
						alle, und den bösen Zauberer verbannte er, und dem Holzfäller 
						und seinem Weibe schickteer viele kostbare Geschenke, und ihren 
						Kindern erwies er hohe Ehre. Und er duldete nicht, dass jemand grausam 
						war gegen Vögel oder anderes Getier, sondern lehrte Liebe und 
						Herzensgüte und Barmherzigkeit, und den Armen gab er Brot, 
						und denen, die nackt und bloß waren, gab er Kleidung, und 
						es herrschte Friede und Überfluss im Lande. 
						 
						Doch er regierte nicht lange, so groß war sein Leiden gewesen 
						und so schmerzhaft das Feuer seiner Prüfung; drei Jahre später 
						starb er. Und der nach ihm kam, regierte schlecht. 
						 
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						Oscar Wilde (1854-1900) / Das Bildnis des Dorian Gray 
						1) "Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe und das Bild altern könnte! Meine Seele gäbe ich dafür als Preis!" 
						2) "Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund." 
						3) "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war." 
						 
						Oscar Wilde: 
						- Utopia on a map 
						- The Soul of Man Under Socialism 
						- Die Seele des Menschen im Sozialismus 
						- Das Sternenkind 
						 
						- Oscar Wilde - Werke / Works 
						 
						 
						
						 
						 
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