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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Comte de Lautréamont:

DIE GESÄNGE DES MALDOROR


Es war ein Frühlingstag. Die Vögel sandten zwitschernd ihre Lieder hinaus, und die Menschen, ihren verschiedenen Pflichten hingegeben, gaben sich dem geheiligten Müdesein hin. Alles arbeitete an seinem Schicksal; die Bäume, die Planeten, die Haie. Alles, mit Ausnahme des Schöpfers! Er lag auf der Straße hingestreckt mit zerrissenen Kleidern. Seine Unterlippe hing wie ein erschlafftes Seil herab; seine Zähne waren nicht gewaschen und der Staub vermischte sich mit den blonden Wellen seiner Haare. In schwerem Schlummer erstarrt, von den Kieselsteinen zerschrammt, bemühte sich sein Körper vergebens, sich zu erheben. Seine Kräfte hatten ihn verlassen und er lag da, schwach wie der Erdenwurm, unempfindlich wie die Baumrinde. Weinströme füllten die Wagengeleise, die von den Zuckungen seiner Schultern ausgehöhlt waren. Die Vertiertheit mit der Schweineschnauze bedeckte ihn mit ihren schützenden Flügeln und warf ihm einen verliebten Blick zu. Seine Beine hämmerten mit schlaffen Muskeln den Boden, wie zwei abgebrochene Masten. Das Blut floß aus seinen Nasenlöchern: beim Fall war sein Gesicht gegen einen Pfahl geschlagen... Er war betrunken! Abscheulich betrunken! Betrunken wie eine Wanze, die während der Nacht drei Tonnen Blut geschluckt hat! Er erfüllte das Echo mit zusammenhanglosen Worten, die hier zu wiederholen ich mich hüten werde; wenn der erhabene Trunkene sich nicht achtet, ich - ich muß die Menschen achten. Wußtet ihr, daß der Schöpfer... sich betrank!!! Mitleid dieser Lippe, beschmutzt aus den Kelchen der Orgie! Der vorbeikommende Igel versenkte die Stacheln in seinen Rücken und sagte: "Das ist für dich. Die Sonne steht im Mittag: arbeite, Faulenzer, und iß nicht das Brot der anderen. Warte ein wenig und du wirst es spüren, wenn ich die Vögel mit den krummen Schnäbeln rufe." Der Grünspecht und die Eule, die vorüberkamen, bohrten ihren ganzen Schnabel in seinen Bauch und sagten: "Das ist für dich. Was willst du auf dieser Erde tun? Bist du gekommen, um den Tieren diese schauerliche Komödie vorzufahren? Aber ich schwöre dir, weder Maulwurf, noch Kasuar, noch Flamingo werden es dir nachmachen." Der Esel, der vorüberkam, gab ihm einen Fußtritt in die Schläfe und sagte: "Das ist für dich. Was hatte ich dir getan, daß du mir so lange Ohren gabst? Selbst noch die Grille, alle verachten sie mich." Die Kröte, die vorbeikam, spritzte ihren Geifer auf seine Stirn und sagte: "Das ist für dich. Wenn du mir nicht ein so großes Auge gegeben hättest, und ich dich so, wie du jetzt bist, sehen müßte, würde ich die Schönheit deiner Glieder keusch unter einer Flut von Ranunkeln, Vergißmein nicht und Kamelien verborgen haben, damit niemand dich sehe." Der Löwe, der vorüberkam, neigte sein königliches Antlitz und sagte: "Ich, ich achte ihn, obwohl sein Glanz uns im Augenblick verdunkelt erscheint. Ihr anderen, die ihr die Stolzen spielt und doch nur Feiglinge seid, da ihr ihn im Schlafe angegriffen habt, wäret ihr denn damit einverstanden, wenn ihr an seiner Stelle von den Vorübergehenden Beleidigungen hinnehmen mußtet, die ihr ihm nicht erspart habt?" Der Mensch, der vorüberging, blieb vor dem verkannten Schöpfer stehen, und unter dem Beifall der Filzlaus und der Otter beschmutzte er das erhabene Gesicht drei Tage lang mit Kot! Unglück über den Menschen für solche Beleidigung; denn er hat den Feind nicht geachtet, der in einer Mischung von Schmutz, Blut und Wein ausgestreckt dalag, ohne Verteidigung und fast leblos! ... Da, endlich, von all den gemeinen Beleidigungen aufgeweckt, erhob sich der oberste Gott, so gut er konnte; schwankend ging er, um sich auf einen Stein zu setzen, mit Armen, die so schlaff herabringen wie die Hoden von Schwindsüchtigen; und er warf einen erloschenen, glanzlosen Blick über die ganze Natur, die ihm gehörte. O Menschen, ihr seid fürchterlich als seine Kinder; aber ich flehe euch an, verschont dieses hohe Geschopf, das die schmutzige Flüssigkeit noch nicht ganz wieder herausgeschwitzt hat, und da es nicht Kraft genug bewahrt hat, um sich gerade zu halten, schwer auf diesen Felsen gefallen ist, auf dem es sich wie ein Reisender niedergelassen hatte. Seht diesen vorübergehenden Bettler; er hat bemerkt, daß der Derwisch einen gierigen Arm ausstreckte, und, ohne zu wissen, wem er das Almosen gab, warf er ein Stück Brot in die Barmherzigkeit heischende Hand. Der Schöpfer hat ihm seine Dankbarkeit durch eine Kopfbewegung bezeigt. O, ihr werdet niemals wissen, was für eine schwierige Angelegenheit es wird, ständig die Zügel des Weltalls zu halten! Das Blut steigt manchmal in den Kopf, wenn man sich bemüht, einen letzten Kometen aus dem Nichts zu erzeugen, bevölkert von einem neuen mit Geist ausgestatteten Geschlecht. Die Klugheit, zu sehr von Grund auf bewegt, zieht sich wie ein Besiegter zurück und kann einmal im Leben den Verirrungen verfallen, deren Zeuge ihr gewesen seid!


- Gesang III, Strophe 4-
- Les Chants de Maldoror: Chant III, Strophe 4 -

Comte de Lautréamont (Isidore Ducasse, 1846-1870):
Maldoror: Schatten - Ombre
Maldoror: Liebe - Amour
Maldoror: Gott - Dieu
Lautréamont / Ducasse: Œuvres complètes
Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror


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