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Gottfried Keller:
DAS HEXENKIND
In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen,
welche nichts als ein halb verwittertes Wappen und die Jahreszahl
1713 trug. Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes
und erzählten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von
demselben, wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt, aber in das Pfarrhaus,
in welchem dazumal ein gottesfürchtiger und strenger Mann wohnte,
verbannt gewesen sei, um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich
frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden. Dieses sei aber nicht gelungen;
vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können, die drei Namen
der höchsten Dreieinigkeit auszusprechen, und sei in dieser gottlosen
Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben. Es sei ein
außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von
sieben Jahren und dessenungeachtet die allerärgste Hexe gewesen. Besonders
hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angetan, wenn
es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind
verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätten. Sodann hätte
es seinen Unfug mit dem Geflügel getrieben und insbesondere alle Tauben
des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext,
daß er dieselben öfters anbehalten, gebraten und zu seinem Schaden
gespeist habe. Selbst die Fische in dem Wasser habe es gebannt, indem
es tagelang am Ufer saß und die alten klugen Forellen verblendete,
daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwänzelten,
sich in der Sonne spiegelnd. Die alten Frauen pflegten diese Sage
als Schreckmännchen für die Kinder zu gebrauchen, wenn sie nicht fromm
waren, und fügten noch viele seltsame und phantastische Züge hinzu.
Im Pfarrhause hingegen hing wirklich ein altes dunkles Ölgemälde,
das Bildnis dieses merkwürdigen Kindes enthaltend. Es war ein außerordentlich
zart gebautes Mädchen in einem blaßgrünen Damastkleide, dessen Saum
in einem weiten Kreise starrte und die Füßchen nicht sehen ließ. Um
den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing
vorn bis auf den Boden herab. Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen
Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberflittern, von seidenen Schnüren
und Perlen durchflochten. In seinen Händen hielt das Kind den Totenschädel
eines andern Kindes und eine weiße Rose. Noch nie habe ich aber ein
so schönes, liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen, wie
das blasse Gesicht dieses Mädchens; es war eher schmal als rund, eine
tiefe Trauer lag darin, die glänzenden dunklen Augen sahen voll Schwermut
und wie um Hilfe flehend auf den Beschauer, während um den geschlossenen
Mund eine leise Spur von Schalkheit oder lächelnder Bitterkeit schwebte.
Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und
Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche
Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen, ihm schmeicheln und es liebkosen
zu dürfen. Es war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb
und wert, und in den Erzählungen und Sagen von ihm war ebensoviel
unwillkürliche Teilnahme als Abscheu zu bemerken.
Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Mädchen, einer
adeligen, stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig, eine hartnäckige
Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher
zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte,
wenn man ihm vorbetete, und kläglich zu schreien anfing, wenn man
es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen
Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab. Es war ein Kind aus einer
unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes
sein. So beschloß man, als es durch keine Mittel von der unerklärlichen
Unart abgebracht werden konnte, das Kind jenem wegen seiner Strenggläubigkeit
berühmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben. Wenn schon
die Familie die Sache als ein befremdliches und ihrem Rufe Unehre
bringendes Unglück auffaßte, so betrachtete der dumpfe, harte Mann
dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische Erscheinung,
welcher mit aller Kraft entgegenzutreten sei. Demgemäß nahm er seine
Maßregeln, und ein altes vergilbtes "diarium", von ihm herrührend
und im Pfarrhause aufbewahrt, enthält einige Notizen, welche über
sein Verfahren sowie das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes
hinreichenden Aufschluß geben. Folgende Stellen habe ich mir ihres
seltsamen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blättern
einverleiben und so die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen
Erinnerungen aufbewahren, da sie sonst verloren gehen würde.
"Heute habe ich von der hochgeborenen und gottesfürchtigen Frau von
M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten,
alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret
(Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft,
indeme sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte,
nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige
Werk zu einem guten Ende führen möge. Hat die Kleine zwaren jämmerlich
geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten, aber nichts desto
weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch
verschmähet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen
kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle
Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden
ist, bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen, nicht
anders wie die drey seligen Männer im Feuerofen, und habe ich zugehöret
und erkennt, daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen,
so sie sonsten zu lernen refusirete, aber in so unnützlicher und weltlicher
Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben;
so daß ich solches Gebahren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch
des Teufels zu nemen gezwungen ward."
Ferner: "Ist ein höchst lamentables Schreiben arriviret von Madame,
welche in Wahrheit eine fürtreffliche und rechtgläubige Person ist.
Sie hat besagten Brief mit ihren Thränen benetzet und mir auch die
große Bekümmerniß des Herren Gemahls vermeldet, daß es mit der kleinen
Meret nicht besser gehen will. Und ist dieses gewißlich eine große
Calamität, so diesem hochansehnlichen und berühmten Geschlecht zugestoßen
und möchte man der Meinung seyn, mit Respect zu sagen, daß sich die
Sünden des Herren Großpapa väterlicher Seits, welches ein gottloser
Wütherich und schlimmer Cavalier ware, an diesem armseligen Geschöpflein
vermerken lassen und rechen. Habe mein Tractament mit der Kleinen
changiret und will nunmehr die Hungerkur probiren. Auch habe ich ein
Röcklein von grobem Sacktuch durch meine Ehefrau selbsten anfertigen
lassen und verbothen, der Meret ein ander Habit anzulegen, sintemal
diese Bußkleidung ihr am besten conveniret. Verstocktheit auf dem
gleichen Puncto."
"Sahe mich heute gezwungen, die kleine Demoiselle von allem Verkehr
und Unterhalt mit denen Bauernkindern abzusperren, weill sie mit selbigen
in das Holz gelauffen, allda gebadet im Holzweiher, das Bußhemdlein,
so ich ihr ordiniret, an einen Baumast gehenkt hat und nackent davor
gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und
Unfug aufgereizet. Beträchtliche Correction."
"Heut ein großer Spectakel und Verdruß. Kame ein großer, starker Schlingel,
der junge Müllerhans, und richtete mir Händel an von wegen der Meret,
welche er alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben, und
disputirte ich mit demselben, als auch der junge Schulmeister,der
Tropf, herankam und drohete, mich zu verklagen, und fiel über die
schlimme Creatur her, herzete und küssete sie etc. etc. Ließ den Schulmeister
alsogleich arretiren und zum Landvogt führen. Dem Müllerhans muß ich
auch noch beikornmen, obgleich selbiger reich und gewaltthätig ist.
Möchte bald selber glauben, was die Bauersleute sagen, daß das Kind
eine Hexe sey, wenn diese Opinion nicht der Vernunft widerspräche.
Jeden Falls steckt der Teufel in ihr und habe ich ein schlimmes Stück
Arbeit übernommen."
"Diese ganze Woche habe ich einen Mahler im Hause tractiret, so mir
Madame übersendet, damit er das Portrait der kleinen Fräulein anfertige.
Die bedrängte Familie will das Geschöpfe nicht mehr zu sich nemen
und allein zum traurigen Angedenken und zur bußfertigen Anschauung,
auch von wegen der großen Schönheit des Kindes, ein Conterfey behalten.
Insbesundere will der Herr nicht von dieser Idee lassen. Meine Ehefrau
verabreicht dem Mahler alltäglich zwei Schoppen Wein, woran er nicht
genug zu haben scheinet, da er allabendlich in den rothen Löwen gehet
und dort mit dem Chirurgo spielet. Ist ein hochfahrendes Subject und
setze ihm daher öfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor, welches
in dem Quartal Conto der Madame zu vermerken ist. Wollte anfenglich
mit der Kleinen sein Wesen und Freundlichkeit treiben, und hat sie
sich sogleich an ihn attachiret, daher ich ihme bedeutet habe, mir
in meinem Procedere nicht zu interveniren. Wie man der Kleinen ihr
verwahrte Habit und Sonntagsstaat herfürgehohlt und angelegt benebst
der Schapell und der Gürtlen, so hat sie großen Plaisir gezeiget und
zu tanzen begonnen. Diese ihre Freude ist aber bald verbittert worden,
als ich nach dem Befelch der Frau Mama 1 Todtenschedel hohlen ließe
und in die Hand zu tragen gab, welchen sie partout nicht nemen wollen
und hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten, wie wenn
es ein feurig Eisen wär. Zwaren hat der Mahler behauptet, er könne
den Schedel auswendig malen, weill solcher zu denen allerersten Elementen
seiner Kunst gehöre, habe es aber nicht zugegeben, sintemal Madame
geschrieben hat: 'Was das Kind leidet, das leiden auch wir, und ist
uns in seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben, so wir für
ihn's thun können; derohalb brechen Ew. Wohlehrwürden in Nichts ab,
Euere Fürsorge und Education betreffend. Wenn das Töchterlein dereinst,
wie ich zum allmächtigen und barmherzigen Gott verhoffe, hier oder
dort erleuchtet und gerettet seyn wird, so wird es ohnzweifelhaft
sich höchlich erfreuen, ein gutes Theil seiner Buße schon mit seiner
Verstocktheit abgethan zu haben, welche über ihn's zu verhängen, der
unerforschliche Meister beliebt hat!' Diese tapferen Worte vor Augen,
habe ich auch diese Gelegenheit für dienlich erachtet, der Kleinen
mit dem Schedel eine ernsthafte Buße anzuthun. Man hat übrigens einen
kleinen leichten Kindsschedel gebrauchet, dieweill der Mahler sich
beschwehret, daß der große Mannsschedel zu unförmlich seye für die
kleinen Händlein, in Betracht seiner Kunst-Regula und hat sie denselben
nachher lieber gehalten; auch hat ihr der Mahler ein weißes Röslein
dazugesteckt, was ich wohl leiden mochte, weil es als ein gutes Symbolum
gelten kann."
"Habe heut plötzlich ein Contreordre erhalten in Betreff des Tableau
und soll nun selbiges nicht nach der Stadt spediren, sondern hier
behalten. Es ist Schad um die brave Arbeit, so der Mahler gemacht
hat, weil er ganz charmiret war von der Anmuth des Kinds. Hätt ich
es früher gewußt, so hätt der Mann für diesen Kostenaufwand mein eigen
Conterfey auf das Tuch mahlen können, wenn die schönen Victualien
nebst Lohn einmal drauff gehen sollen."
"Es ist mir fernerer Befelch zu Handen gekommen, mit aller weltlichen
Instruction abzubrechen, besonders mit dem Französischen, da solches
nicht mehr nöthig erachtet werde, so wie auch meine Gemahlin den Unterricht
auf dem Spinett sistiren solle, was der Kleinen leid zu thun scheinet.
Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind tractiren
und allein fürsorgen, daß sie kein öffentlich Ärgerniß gebe."
"Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiret und haben wir große
Angst empfunden, bis daß sie heute Mittag um 12. Uhr zu obrist auf
dem Buchenloo ausgespüret wurde, wo sie entkleidet auf ihrem Bußhabit
an der Sonne saß und sich baß wärmete. Sie hatt ihr Haar ganz aufgeflochten
und ein Kränzlein von Buchenlaub darauff gesetzet, so wie ein dito
Scherpen um den Leib gehenkt, auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor
sich liegen gehabt, von denen sie ganz voll und rundlich gegessen
war. Als sie unser ansichtig ward, wollte sie wiederum Reißaus nemen,
schämete sich aber ihrer Blöße und wollte ihr Habitlein überziehen,
dahero wir sie glücklich attrapiret. Sie ist nun krank und scheinet
confuse zu seyn, da sie keine vernünftige Antwort giebet."
"Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser, jedoch ist sie mehr und
mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm. Die Consultation
des herbeygeruffenen Medici verlautet dahin, daß sie irr- oder blödsinnig
werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey;
er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen, das Kind
wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret
würde. Ich merke aber schon, daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die
gute Pension benebst denen Präsenten von Madame zu thun seye, und
berichtete derohalb, was ich für gut befunden, nemlich daß der Herr
seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Creatur
und daß Menschenhände hieran Nichts changiren möchten und dürften,
wie es in Wirklichkeit auch ist."
Nach Überschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter: "Es
scheinet dieses Kind in seinem blöden Zustande einer trefflichen Gesundheit
zu genießen und hat ganz muntere rothe Backen bekommen. Hält sich
nun den ganzen Tag in den Bohnen auf, wo man sie nicht siehet und
weiter nicht um sie bekümbert, zumalen sie weiter kein Aergernuß giebet."
"Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnenplatz einen kleinen Salon
arrangiret, so man entdecket, und hat dorten artliche Visites acceptiret
von denen Bauernkindern, welche ihme Obst und andere Victualia zugeschleppet,
so sie gar zierlich vergraben und in Vorrath gehalten hat. Daselbst
hat man auch jenen kleinen Kindsschedel begraben gefunden, welcher
längst abhanden gekommen und dahero dem Küster nicht restituiret werden
konnte. Dergleichen auch die Spatzen und andere Vögel herbeygezogen
und zahm gemacht, daß die den Bohnen viel Abbruch gethan und ich jedoch
nicht mehr in die Bohnenstauden schießen können, von wegen der kleinen
Insaß. Item hat sie mit einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt,
welche durch den Hag gebrochen und sich bei ihr eingenistet; in summa,
man hat sie wieder ins Haus nemen und inne behalten müssen."
"Die rothen Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der
Chirurgus, sie werde es nicht mehr lang prästiren. Habe auch schon
an die Eltern geschrieben."
"Heut vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen,
in die Bohnen hinaus geschlichen und dort verschieden seyn; denn wir
haben sie alldort für todt gefunden in einem Grüblein, so sie in den
Erdboden hinein gewühlet, als ob sie hineinschlüpfen wollen. Sie ist
ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und
schwer vom Thau, als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast
röthlichen Wänglein gelegen, nicht anders, denn auf einem Apfelblust.
Und haben wir einen heftigen Schrecken bekommen und bin ich in große
Verlegenheit und Confusion gerathen den heutigen Tag, dieweill die
Herrschaft aus der Stadt angelanget, just wie meine Ehefrau verreiset
ist nach K., um allda einiges Confect und Provision einzukaufen, damit
die Herrschaften höflicher zu tractiren. Wußte derohalb nicht, wo
mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen, und sollten
die Mägde das Leichlein waschen und ankleiden, und zugleich für einen
guten Imbiß sorgen. Endlich habe ich den grünen Schinken braten lassen,
so meine Frau vor acht Tagen in Essig geleget, und hat der Jakob drei
Stück von denen zahmen Forellen gefangen, welche noch hin und wieder
an den Garten kommen, obgleich man die selige (?!) Meret nicht mehr
zum Wasser hinauß gelassen. Habe zum Glück mit diesen Speißen noch
ziemliche Ehre eingeleget und haben dieselbigen der Madame wohl geschmecket.
Ist eine große Traurigkeit gewesen und haben wir mehr denn zwei Stunden
in Gebeth und Todesbetrachtungen verbracht, desgleichen in melankolischen
Reden von der unglückseligen Krankhaftigkeit des verstorbenen Mägdleins,
da wir nun annemen müssen zu unserem vermehrten Trost, daß selbe in
einer fatalen Disposition des Blutes und Gehirns ihren Ursprung gehabt.
Daneben haben wir auch von den sonstigen großen Gaben des Kindes geredet
und von seinen oftmaligen klugen und anmuthigen Einfällen und Impromptus
und Alles nicht zusammenreimen können in unserer irdischen Kurzsichtigkeit.
Morgens am Vormittag wird man dem Kind ein Christlich Begräbniß geben
und ist die Präsenz der fürnehmen Eltern dazu kommlich, ansonsten
die Pauren sich widersetzen mögten."
"Dieses ist der allerwunderbarste und schreckhafteste Tag gewesen,
nicht nur allein, seit wir mit dieser unseligen Creatur zu schaffen,
sondern der mir überhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen
ist. Denn als die Stunde gekommen und es zehn Uhr geschlagen, haben
wir uns hinter dem Leichlein her in Bewegung gesetzet und nach dem
Gottesacker begeben, indessen der Sigrist die kleine Glocken geläutet,
was er aber nicht mit sehrem Fleiße gethan, dieweill es fast erbärmlich
geklungen und das Geläute zur Halbpart vom starken Winde verschlungen
worden, der unwirsch gewehet hat. Und war auch der Himmel ganz dunkel
und schwül, sowie der Kirchhof von Menschen entblößet außer unserer
kleinen Compagnie, hergegenaußerhalb denen Mauren die ganze Baursame
vereiniget und hat neugierig die Köpfe herüber gerecket. Wie man aber
so eben das Todtenbäumlein in das Grab hinunter senken wollen, hat
man ein seltsamen Schrei gehört aus dem Todtenbäumlein hervor, so
daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der Todtengräber auf
und davon gesprungen ist. Der Chirurgus aber, welcher auch herzugeloffen,
hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehebt, und hat sich das
Tödlein als lebendig aufgerichtet und ist ganz behende aus dem Gräblein
gekrochen und hat uns angeblicket. Und wie im selbigen Moment die
Strahlen Phöbi seltsam und stechend durch die Wolken gedrungen, so
hat es in seinem gelblichen Brokat und mit dem glitzrigen Krönlein
ausgesehen, wie ein Feyen- oder Koboltskind. Die Frau Mama ist alsobald
in eine starke Ohnmacht verfallen und der Herr v. M. weinend zur Erde
gestürzet. Ich selbst habe mich vor Verwunderung und Schrecken nicht
gerühret und in diesem Moment steif an ein Hexenthum geglaubt. Das
Mägdlein aber hat sich bald ermannt und ist über den Kirchhof davon
und zum Dorf hinaus gezwirbelt, wie eine Katz, daß alle Leute voll
Entsetzen heimgeflohen sind und ihre Thüren verriegelt haben. Zu selbiger
Zeit ist just die Schulzeit aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf
die Gaß gekommen, und als das kleine Zeugs die Sache gesehen, hat
man die Kinder nicht halten können, sondern ist eine große Schaar
dem Leichlein nachgelaufen und hat es verfolget und hintendrein ist
noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen. Es hat aber immer
ein zwanzig Schritt Vorsprung gehabt und nicht eher Halt gemacht,
als bis es auf dem Buchenloo angekommen und leblos umgefallen ist,
worauf die Kinder um dasselbige herumgekrabbelt und es vergeblich
gestreichelt und caressiret haben. Dieses Alles haben wir nach der
Hand erfahren, weil wir mit großer Noth in das Pfarrhaus uns salviret
und in tiefer desolation verharret sind, bis man das Leichlein wiederum
gebracht hat. Man hat es auf ein Matraz gelegt und ist die Herrschaft
darauf verreiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafell, worein
Nichts als das Familienwappen und Jahrzahl gehauen ist. Nunmehr liegt
das Kind wieder für todt und getrauen wir uns nicht, zu Bett zu gehen
aus Furcht. Der Medicus sitzet aber bei ihm und meint nun, es sei
endlich zur Ruh gekommen."
"Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt,
daß das Kind wirklich todt seye und ist es nun in der Stille beigesetzt
worden und nichts Weiteres arrivirt" und so fort.
Aus: Gottfried Keller:
Der grüne Heinrich. (1879/80; Das Meretlein).
Gottfried Keller (1819-1890):
Lebendig begraben
Das Hexenkind
Träume von einem Traum
Der grüne Heinrich
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