Sterneck.Net



STERNECK.NET

Cybertribe-Archiv

Utopia  |  Politik  |  Ökologie  |  Gender  |  Sex  |  Cyber
Ritual  |  Drogen  |  Musik  |  Literatur  |  Vision  |  Projekte  |  English

Claus Sterneck / Claus in Iceland
Claus in Iceland  |  Pictures+Sounds  |  Ausstellungen  |  Musik  |  Facebook  |  News  |  English

Wolfgang Sterneck
Artikel+Texte  |  Foto-Reportagen  |  Bücher  |  Workshops  |  Musik  |  Facebook  |  News  |  English

Archiv Sterneck.net
www.sterneck.net contact@sterneck.net

P16.D4:

- P16.D4 / Slave to the Rhythm
- W. Sterneck / P16.D4 und die Strukturen

------------

P16.D4:

SLAVE TO THE RHYTHM

Pop im Warenhaus, im Kino, im TV, bei der Arbeit. Die Funktion: Werbung. Die Kriterien mit denen die Qualität von Pop gemessen wird: Pseudokriterien einer Pseudoqualität: Werbung fürs System: Duldung der Verhältnisse. Der Kriterienkatalog: Gut zum Tanzen / Gut zum Ficken / Gut zum Marschieren / Gut zum Mitsingen / Gut zum Mitleiden. Diese Kriterien sind nahezu gleich bei der Beurteilung von Populärer Klassik, Jazz, Folk, Wave, Disco, Metal, Punk, Volksmusik. Es ist unsinnig eine Sparte Pop gegen eine andere ausspielen zu wollen: Wave besser als Disco / Jazz besser als Rock / etc., solange keine ernsthaften Versuche erkennbar sind, die Popstruktur inklusive Vermarktungsmechanismen zu verlassen.

Auch ”kritische” Texte ändern daran nichts, solange Form / Ausdruck von Musik und Text unkritisch sind, denn in bedeutungstragenden Zeichensystemen können neben dem (eigentlichen) Inhalt die Form und der Inhalt zu einem neuen überlagernden Inhalt werden: Wo ist der strukturale Unterschied zwischen Freddy Quinn und Hannes Wader? Motörhead und Exploited? Live Aid und Jack-White-Show?

”... in the heat of the night - you loose your heart and sell your soul - I loose control in the heat of the night ...”

Also Schritt vom Pop zu Etwas, das unreflektiert als ”Avantgarde” durch die Kataloge geistert, bzw. zur ”Kunst” deren Funktion in scheinbarer Funktionslosigkeit, nämlich Unverwertbarkeit fürs System bestehen könnte. Unverwertbar: kein Rhythmus auf den man tanzvögelnmarschieren kann / keine Harmonien als Ausgleich für Emotionsdefizite / keine Texte zum Mitsingen und Selbstvergessen / keine Möglichkeit zu beschaulicher Meditation bei Kerzen und Wein.

”... we’re lost in music, caught in a trap, no turning back, we’re ...”

Dennoch ist die Kenntnis vom Pop und seiner Funktion wichtig, denn mit akademischer Konservatoriumsausbildung allein ist eine derartige autonome, zeitgemäße Musik nicht zu produzieren. Das Improvisation aus dem Entstehungsprozeß nicht ganz wegzudenken ist, dürfte klar sein. Instrumentalartistik (siehe Klassikrockjazz) ist allerdings keine Qualität, die für sich selbst stehen könnte. Improvisation als Lebensinhalt geht von der falschen Vorstellung aus, Gefühle seien echt und nicht gesellschaftlich vermittelt, bzw. ”in mir drin” sei etwas Echtes, Wahres, das es aus mir herauszupressen gelte; mein Bauch spielt, ”es spielt aus mir heraus...” - Hohoho...

Die Kompositionsprinzipien einer zeitgemäßen Musik müssen auf den Ergebnissen der letzten Jahrzehnte aufbauen, hinter die nicht zurückgetreten werden kann und die vom Pop der letzten vierzig Jahre fast ausnahmslos ignoriert werden: Atonalität, freie Rhythmik, Geräusch als Ton, Serielles und Aleatorisches Prinzip. Ton- bzw. Geräuschquellen können dabei genauso wie bereits komponiertes oder gespeichertes Material als ”Instrument” eingesetzt werden. All dies wird weitgehend ignoriert, so wie es das System verlangt, oder auf ”volksnahe” Hörgewohnheiten abgeschliffen und vermarktet. (Siehe zum Beispiel Grusel- und SF-Filme der sechziger Jahre, unterlegt mit atonalen und ”sphärischen” Elektronikklängen).

Eine neue Stufe stellt das Prinzip des Materialaustauschs und der phasenweisen Weiterverarbeitung durch andere dar: Einsatz kontrollierten Zufalls. Ausgangsmaterialien werden von verschiedenen Gruppen ausgetauscht und verarbeitet, die Ergebnisse möglicherweise noch einmal ausgetauscht und weiterentwickelt.

Dieser Ansatz kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Möglichkeit einer autonomen, zeitgemäßen Musik angezweifelt werden muß; vielleicht ist nur der Weg einer negativen Reaktion auf vorhandenes Material noch gangbar.

Makxs / P16.D4

Infos zu P16.D4 unter:
Selektion - art-organisation and company
www.selektion.com

Dank an Selektion.

--------

Wolfgang Sterneck:

P16.D4 UND DIE STRUKTUREN

Die Aufnahmen der 1980 erschienen EP ”Alltag” der Mainzer Gruppe P.D. bestanden aus verfremdeten Geräuschen, die unter anderem in einer Bahnhofshalle aufgenommen wurden, und mit verzerrten elektronischen Grundrhythmen unterlegt wurden. Die Stücke erinnerten an eine surrealistische Sicht- und Hörweise, sowie teilweise an Eindrücke unter Drogen-einfluß. Ein Zitat auf dem Cover der EP verdeutlichte den theoretischen Ausgangspunkt: ”Wenn überhaupt noch eine ’Musik’, dann eine, die stärker mit den Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, dem technischen Display des modernen Alltags interferiert, die enger mit den Tag-um-Tag-Rhythmen verzahnt ist als alle vorhergehenden Musiken.”

Im gleichen Jahr gründeten Mitglieder von P.D. das Kassettenlabel Wahrnehmungen, welches später zu Selektion umbenannt wurde und sich auf die Produktion von Schallplatten und CDs konzentrierte. Die Gruppe und das Label waren in ihrer Anfangszeit ein Teil der zu diesem Zeitpunkt äußerst vielfältigen Untergrundszene in der Bundesrepublik. Vielfach angeregt durch die ursprünglichen Grundaussagen der Punk-Bewegung entstanden gegen Ende der siebziger Jahre verschiedene Musikprojekte, die durch ein Netz kleiner Kassetten- und Plattenlabels strukturell miteinander verbunden waren. Viele Bands suchten nach neuen Wegen und wandten sich, oftmals von der Rockmusik ausgehend, experimentellen und avantgardist-ischen Ausdrucksformen zu. Nach einer äußerst kreativen Phase kam es jedoch 1982 zu einem entscheidenden Einschnitt. Teile der Szene wurden unter der Bezeichnung Neue Deutsche Welle (NDW) von der Musikindustrie kommerziel ausgeschlachtet, darunter bezeichnender Weise auch die VertreterInnen eines verkaufs-wirksam aktualisierten Schlagers.

P.D. bzw. nach einer Namensänderung P16.D4 blieben von dieser Entwicklung weitgehend unberührt, da ihre musikalischen Ausdrucksformen zu radikal waren, um bei der Industrie auf Interesse zu stoßen. 1982 begann die Gruppe mit der Arbeit an ”Distant Structures”, einem international ausgerichteten Projekt, das auf der Idee des Materialaustausches basierte. Insgesamt fünfzehn Gruppen aus verschiedenen Staaten schickten Aufnahmen an P16.D4, die diese weiterverarbeiteten, miteinander verknüpften und letztlich in einer neugestalteten Form veröffentlichten. In ihrer Gesamtheit standen die Arbeiten von P16.D4 in der Tradition der forschenden Auseinandersetzung mit akustischen Materialien durch die Vertreter der Musique concrète und der Elektronischen Musik in den späten vierziger und fünfziger Jahren. P16.D4 führten deren Versuche mit einem anderen inhaltlichen Hintergrund weiter, ohne sie wie andere vorgeblich experimentelle Gruppen mit verbesserten technischen Mitteln nur zu wiederholen.

1986 griffen P16.D4 in Zusammenarbeit mit dem Projekt Gruppe Swimming Behaviour Of The Human Infant (S.B.O.T.H.I.) das Prinzip des Materialaustausches erneut auf, allerdings in einer auf zwei Beteiligte reduzierten Form. Erneut wurden Töne bearbeitet, in neue Zusammenhänge gestellt und veränderten Bedeutungen zugeführt. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit wurden auf der Doppel-LP ”Nichts Niemand Nirgends Nie!” veröffentlicht. In einem Beiheft dokumentierten P16.D4 ausführlich die einzelnen Schritte des Entsteh-ungsprozesses: ”1. Materialsammlung. 2. Materialübermittlung. 3. Auswahl. 4. Bearbeitung (Bildung von Mikrostrukturen). 5. Komposition (Bildung von Makrostrukturen).” Als Beispiele für den Vorgang der Bearbeitung wurden unter anderem angegeben: ”Cut Ups, Richtungsänderung, Geschwindigkeitsänderung, Bandknittern, Harmonisierung, Over-dubbing...” Die Arbeitsvorgänge unterteilten sich in Phasen, deren Ablauf vorher festgelegt wurde, in Phasen, bei denen mit dem Mittel des kontrollierten Zufalls gearbeitet wurde, sowie in Phasen, in denen frei improvisiert wurde.

Wesentlich für das Verständnis der dadurch entstandenen Kompositionen ist die grundsätzlich ablehnende Haltung von P16.D4 und S.B.O.T.H.I. gegenüber der populären Musik in all ihren Ausprägungen. ”Pop im Warenhaus, im Kino, im TV, bei der Arbeit. Die Funktion: Werbung. Die Kriterien, mit denen die Qualität von Pop gemessen wird: Pseudokriterien einer Pseudoqualität: Werbung fürs System: Duldung der Verhältnisse.” Die Musiker selbst beabsichtigten eine Musik zu schaffen, bei der eine distanzlose Identifikation bzw. eine Flucht in eine Illusionswelt schon strukturell unmöglich ist. ”Kein Rhythmus, auf den man tanzvögeln-marschieren kann / keine Harmonien als Ausgleich für Emotionsdefizite / keine Texte zum Mitsingen und Selbstvergessen / keine Möglichkeit zu beschaulicher Meditation bei Kerzen und Wein.”

In einer Überschätzung der eigenen Musik ignorierten die Musiker allerdings die Möglichkeit, daß auch verhältnismäßig konventionelle musikalische Ausdrucksformen durch die Vermittlung entsprechender Inhalte oder Stimmungen in einem konsequenten Sinne genutzt werden können. Gleichzeitig kann auch eine vermeintliche Anti-Musik einen verschleiernden und keineswegs zwangsläufig aufbrechenden Charakter haben. Gerade im Bereich der experimentellen Musik sind zahlreiche Veröffentlichungen, die stilistisch mit dem her-kömmlichen Musikverständnis brechen, unabhängig von der ursprünglichen Absicht der MusikerInnen mit einem illusionären Image verbunden. Die Wahrnehmung und die Wirkung einer Veröffentlichung kann nur bis zu einer bestimmten Grenze von den MusikerInnen beeinflußt werden, letztlich entscheidend ist das Bewußtsein der HörerInnen.


Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).

contact@sterneck.net



Zurück zur Übersicht