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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Marcus Stiglegger:

DAS LEBEN IST SCHMERZ

- Modern Primitivism auf der Suche nach einer neuen Authenzität -


'Nirgendwo ist der Mensch mehr Kreatur als im Zustand unerträglicher Schmerzen.'
Wolfgang Sofsky / Traktat über die Gewalt.

ANMERKUNGEN ZUM GEWÜNSCHTEN LEID

Modern Primitivism hat sich neben New Barbarians und Tribalism als Modewort etabliert. In allen drei Fällen spiegeln sich Facetten eines subkulturellen Phänomens, das zusehends in verschiedene Bereiche der populären Kultur eindringt: Mode, Film und Musik. Auf den folgenden Seiten möchte ich einen Versuch wagen, diese Phänomenologie zu definieren und ihre Popularisierung anhand filmischer Beispiele nachzuweisen. Die spezifische Verbindung von Sexualität, physischem Schmerz und Gewalt, in der der Modern Primitive eine neue, ungekannte Form der sinnlichen Reinheit sucht, ist schwer zu fassen und noch problematischer zu definieren: Der Soziologe Wolfgang Sofsky z.B. unterscheidet in seinem "Traktat über die Gewalt" zwei Formen von Gewalt, die nicht destruktiv auf den Mitmenschen ausgerichtet sind, sondern zur Erweiterung des eigenen Empfindens dienen: "Rituale der Initiation oder asketische Techniken der Selbstkasteiung sind kulturelle Praktiken des Schmerzes. Sie nutzen den Umschlag des auf Leibeinseln eingehegten Schmerzes in Wollust, in die Wonnen der Pein. Oder sie aktivieren Kräfte, die sich dem Schmerz erfolgreich zu widersetzen vermögen. Diese Techniken zielen jedoch weniger auf den Schmerz als auf dessen Überwältigung, auf die Restitution der personalen Einheit. Im Zugewinn an leiblicher Intensität und Handlungsmacht bestehen Lust und Triumph der Souveränität, nicht im Erleiden des Schmerzes." Die im Folgenden beschriebenen Phänomene deuten an, wie sich eine schmerzliche Initiation innerhalb der populären Kultur Wege bahnen kann, um sich der Entfremdung vom eigenen physischen Bewußtsein innerhalb der westlichen Kultur entgegenzustellen.

Es ist nicht neu, auf diese Weise darüber nachzudenken, doch ist es ein wichtiger Schritt, um zu verstehen, wo die tatsächlichen Verbindungen zwischen Kulturanthropologie, Geisteswissenschaft, Kunst und Mystizismus liegen – all jener Dinge, die eng mit dem Phänomen des Modern Primitivism verbunden sind. Zweifellos sind es die Schlüsselbegriffe der Ethnologie, die helfen werden: der Schamane, jener Vermittler zwischen den Welten der Geister und der Menschen, die Initiation als bedeutender Schritt zu einer Höheren Erkenntnis, die Passage von einem Bewußtsein zum nächst höheren, das Ritual als Basis für die Entfaltung der Voraussetzungen für jegliche Entwicklung. Dem Künstler kommt in der westlichen, initiationslosen Gesellschaft in gewissen Fällen die schamanistische Funktion zu: Dieses Selbstverständnis reicht von Joseph Beuys zu den Wiener Aktionisten. Der Künstler ist der Eingeweihte, der den Rezipienten den Schritt der Initiation voraus hat. Wesentlich wird es für ihn, dieses Defizit zu beheben. Tatsächlich hat er eine Mission, sogar eine gesellschaftliche. Das ist mehr, als ihm die Moderne zugestehen wollte, die nicht an eine "transzendierende" Möglichkeit glauben mochte. Da Initiation immer die Konfrontation mit dem Un-Faßbaren bedeutet, wird Kunst notwendig als reflektierter Leidensmoment, als Moment der Krise: einer künstlichen, provozierten Krise, wenn man so will. Der Künstler bedient sich der jeweils kulturell naheliegenden Affektbilder und -situationen, die er komplex in sein eigenes ästhetisches Universum bettet – so bieten sich gerade die Bizarrerien des Modern Primitivsm zur Simulation von "Authentizität" an. Bis zu einem gewissen Grad ist demnach jedes "gelungene" Kunstwerk zugänglich und zugleich nicht. Die Analyse der Autorenschaft kann jedoch nie die Voraussetzung für eine tiefere Erkenntnis sein - sie bestätigt lediglich die Tauglichkeit des Künstlers als Mittler. Kunst besteht also als Methode der Erkenntnis, als Möglichkeit, "ganz" zu werden. Zärtlichkeit, Sexualität, Gewalt, Tod, Qual, Schöpfung, Irritation, Relativierung, Bestätigung, Alltäglichkeit und Mythos sind die Dreh- und Angelpunkte des initiatorischen Werkes, das sich im einen Fall einer Darstellung modern primitiver Körpertechniken bedient, oder im anderen Fall den Stil der Darstellung aus einer Reflektion dieser Techniken bezieht. Essentielle Erfahrungen werden ästhetisch vermittelt und vom Publikum authentisch erlebt – im Idealfall. Die Passage ist das Ziel, die Transzendenz die Idee.

Wir leben im Zeitalter der reduzierten Erfahrung, der domestizierten Authentizität; ein essentielles Leiden wird vermißt und gefordert. Die Rituale einer neuen Kunst, die sich über Autoreflexivität und Zitation erhebt, wird zeitgenössische Wege finden, latent mythische Bilder modern verkleiden, um vergessenes und vermißtes Erleben neu zu garantieren. Sie werden einer Generation ohne Weltkriege und Revolutionen vielleicht zur "humanen Geburt" verhelfen. Kunst gleicht im Einklang mit dem Modern Primitivism einem magischen Ritual, dessen komplexer Aufwand dem Ziel dient, das Unterbewußtsein positiv zu manipulieren und zu stimulieren. Kunst ist in diesem Sinne der magische Akt, künstlerischen Willen geltend zu machen. Bild, Musik, Rede, Kostüm und viele weitere sinnliche Reize sind die Medien des magischen Rituals. Gleichsam soll Kunst zum tiefenpsychologischen Psychodrama werden. Kunst im Zeichen von Modern Primitivism ist und bleibt das Medium von Eros und Thanatos, von mythischem Werden und Vergehen. Und zudem wird im Moment existenzieller Entäußerung – im Schmerz, in der Lust – jede Grenze hinfällig: Die Mauern von Gender fallen, egalisiern alle Partizipienten. Die Körpertechniken des Modern Primitivism kennen die Schranken der Geschlechter nicht. Sie sind die Chance auf ein möglicherweise überfälliges neues Verständnis des unheimlichen Anderen, jenseits des alltäglichen Unbehagens.

'Das in unserem Sinn Reine trägt den unverwechselbaren Stempel des starken, unnatürlichen und lasterhaften Verlangens erotischer Phantasie.'
Salvador Dalí / Die Liebe.

DAS NEUE GESICHT DES BARBAREN:
MODE UND IHRE MEDIALE PROJEKTION

Das neue Gesicht des Barbaren ist zunächst ein äußerlich manifestes Phänomen, eine Frage der subkulturellen Mode. Neben dem archaischen Medium Leder sind es vor allem weitere hautähnliche Materialien, die zur zweiten Haut, zur Skin Two des Modernen Primitiven werden: Latex, Lack und Lycra. Die Kontur des Körpers wird betont und maskiert zugleich: ein sichtbar verhülltes Gesicht. Im Zusammenhang mit den Begriffen Körpermodulation und -manipulation ist das Anlegen formender Korsagen zu sehen, die den Körper zugleich stützen, in eine gewünschte Form pressen und panzern – ungeachtet des Geschlechts. Eine schwarzlederne Korsage mit Schnallen, wie man sie auch aus Filmen wie Edward Scissorhands (Edward mit den Scherenhänden) und Hellraiser kennt, verleiht dem Körper auch etwas Nicht-Menschliches, Insektenhaftes. Als Schuhwerk dienen primär Stiefel aller Art, vom Arbeiterschuh bis zum Reitstiefel. Die Konnotation mit Dominanz und Macht wird dabei bewußt gesucht, um das Element der Gewalt ritualisiert in die Kleidung einzubeziehen. Bestimmte Schuhmarken haben sich auf diese Weise etabliert: Doc Marten’s, Rangers, Dredd Commanders werden als Etiketten im Modern Primitivism durchaus ernst genommen. Als Schmuck und Assecoirs dient vor allem Silber- oder Messingschmuck, der in einigen Fällen fast den Anschein einer Waffe haben kann: So wurden im Zusammenhang mit dem Modern Primitivism krallenartige Gelenkringe populär, die zum Teil auf Designs des Schweizer Apokalypse-Künstlers H.R. Giger basieren.

Eine wesentliche Rolle kommt schließlich der Gestaltung des Körpers selbst zu. Zunächst die Frisur, die in allen möglichen extremen Varianten getragen wird. Neben dem zumindest teilweise kahlrasierten Schädel sind es spezielle Formen der Dredd-Locks, also verfilzter oder zumindest geflochtener Haarsträhnen, die im Modern Primitivism immer wieder auftauchen. Sie verweisen jedoch keineswegs auf den in der jamaikanischen Raggae-Bewegung populären Haarkult, sondern gemahnen an das mythische Medusenhaupt, eine machtvolle, abschreckende Waffe. So werden die Haare zu einem Symbol von Wildheit und Animalität bei Männern wie Frauen. Wenigen ist bewußt, daß auch Kelten, Germanen, die Hunnen und die nordamerikanischen Huronen diese Haartracht in der einen oder anderen Variante im Krieg einsetzten, um den Gegner zu beeindrucken. Ähnliche Funktion kommt dem Körperschmuck zu, der in mindestens zwei Varianten verbreitet ist: Piercing und Tattoos. Die Piercingringe aus Edelstahl werden an allen sensitiven Körperstellen getragen und bewiesen bereits in der römischen Kaiserzeit den Mut und die Leidensfähigkeit ihrer Träger. Auch bei Frauen sind sie zum Manifest einer erweiterten Sexualität geworden, zu einem Symbol der Suche – nach intensiven Beweisen der Existenz. Tattoos sind in sehr verschiedenen Formen und Kulturen bekannt. Im Modern Primitivism haben sich vor allem die großflächigen, farbstarken "Tribals" durchgesetzt, verschlungene Ornamente, die zum Teil in symbolische Form übergehen können. Des weiteren sind es vor allem mythische und okkulte Symbole, die sich als Motive etabliert haben. All diese Elemente stellen eine assoziative Verbindung mit sadomasochistischer Sexualität her, die von einigen Teilen der Modern-Primitives-Bewegung tatsächlich praktiziert wird und als folgerichtige Adaption der Initiations-Wünsche und -Erwartungen erscheint. Gerade im Sadomasochismus macht sich eine bewußte Hinwendung zur existenziellen Freiheit bemerkbar, für die eine Überwindung von Machismo und dem Mythos eines rein weiblichen Masochismus’ Bedingung ist. Wer seine eigene Qual wählen kann, hat letztlich die Macht.

Neben einigen Ausläufern der Hippiekultur der späten sechziger Jahre war die Punkbewegung der siebziger Jahre die erste große Subkultur, deren Anhänger mit Modern Primitive-Elementen auf sich aufmerksam machten. Mit Sicherheitsnadeln wurden temporäre Piercings – v. a. im Gesicht – vorgenommen, Tätowierungen wurden offen getragen, die Haare strähnig "gestellt" und teilweise ausrasiert. Schwarzes Leder war – und ist – in diesem Umfeld ein beliebtes Kleidungsmedium. Die Urpunk-Bewegung der späten Siebziger splittete sich im folgenden Jahrzehnt in verschiedene weitere Bewegungen auf: Gothic, Grebo, Psycho, später Grunge und Elektropunk. Gothic ist eine schwarzromantische Subkultur, die sowohl als spätes Erbe des Existenzialismus angesehen werden kann, als auch als Hybrid der Postpunkbewegung unter dem Einfluß des New Romantic der frühen achtziger Jahre. Erste Vertreter dieser sich vornehmlich schwarz kleidenden, weißgeschminkten Subkultur mit einem oft diffusen Faible für das Okkulte, Morbide und Mittelalterliche sind die Bands Bauhaus seit 1979, deren Stück "Bela Lugosi’s Dead" als erster Gothic-Rock-Song betrachtet werden kann, The Sisters of Mercy, The Cure und Alien Sex Fiend. Neben dem "hochgeschlossenen" mittelalterlichen Aspekt dieser Subkultur behauptete sich bis heute eine Tendenz zur sadomasochistischen Ästhetik, deren Versatzstücke ähnlich wie in der Punkbewegung eingesetzt werden. Andererseits ist in der Selbstdarstellung einiger Gothic-Bands, v.a. Fields of the Nephilim, eine Hinwendung zum Schamanismus und zum stark veräußerlichten Heidentum (Paganismus) auffällig. Sowohl Punk, als auch Gothic haben sich als äußerst langlebig erwiesen und feiern regelmäßig ihr Comeback.

Mit der Industrial-Musik der späten siebziger Jahre (Throbbing Gristle, S.P.K., Whitehouse), sowie deren aktueller Vertreter (Genocide Organ, Dive) ist ebenfalls seit Jahren ein "harter Kern" von Fans assoziiert, deren Selbstdarstellung den apokalyptischen, destruktiven Gestus dieser Musikrichtung aufgreift und mit militaristischen Versatzstücken (Uniformteile, Embleme) sowie ebenfalls Elementen der S&M-Szene verbindet. Die Verwendung von Uniformelementen (Stiefel, Koppelschlösser, Reithosen, Tarnkleidung) bei den Künstlern (z.B. Laibach) sowie bei einem Teil des Publikums verweist auf den autarken Archetyp des Kriegers, der der modernen Gesellschaft "den Kampf angesagt hat" bzw. auf die "Total War"-Mentalität des Kapitalismus reagiert. Körperkult in Form von Tätowierungen etc. spielt sowohl dort als auch in der Metal-Szene und einigen Strömungen der Techno- und Rave-Kultur eine Rolle. Eine szeneübergreifende Studie zu diesen Phänomenen liefert Wolfgang Sterneck in dem von ihm herausgegebenen Band "Cybertribe-Visionen" (Hanau 1996).

Etwas anders verhält es sich mit dem Bereich des rockigen Industrial-Metal bzw. Elektro-Rock, der Modern-Primitive-Elemente häufig nur als Showaspekt ins Image integriert: The Genitorturers z.B. führen Piercing und Bondage als Bühnenperformance vor, während in die Musik von Nine Inch Nails und ihres Hybriden Marilyn Manson zumindest Samples und Textzeilen integriert sind, die auf eine Auseinandersetzung mit Modern Primitivism schließen lassen. Auf eher comichafte Weise bauen The Prodigy und die deutschen Rammstein sadomasochistische, fetischistische und Tribal-Elemente in ihre Videos und Bühnenshows ein, um sich in der Öffentlichkeit ein möglichst prägnantes Image zu geben. Auch Kunstbegriffe wie Elektropunk für The Prodigy und Dance-Metal für Rammstein schließen meist inhaltsleer an etablierte Phänomene an. Auf dieser Ebene hat der Ausverkauf des Modern Primitive-Phänomens bereits begonnen.

Vor allem im Bereich der Fotografie werden häufig Modern Primitive Phänomene dokumentiert. Philippe Fichot, Gründer der französischen Performance-Gruppe Die Form, der Filmemacher Richard Kern (s.u.) und auch so prominente Künstler wie Robert Mapplethorpe und Joel-Peter Witkin sind u.a. auf diesen Bereichen bekannt geworden. Bilddokumente für die oben beschriebene Phänomenologie finden sich in David Woods Kompendium "Torture Garden" und in den Veröffentlichungen von Housk Randall, die beide v.a. die Londoner Fetisch- und Modern Primitive-Szene präsentieren.

Da es sich bei den Vertretern des Modern Primitivism, die man auf speziellen Parties und Konzerten antrifft, letztlich immer um selbsterklärte Exoten handelt, die oft fest in den ökonomischen Arbeitskreislauf integriert sind, würde ich als Bezeichnung für dieses Phänomen statt dessen den etwas weniger weitgreifenden Begriff "Tribal-Style" vorschlagen.

'Man lebt im Unwahren, solange man nicht gelitten hat. Wenn man aber zu leiden beginnt,
wendet man sich dem Wahren nur zu, um dem Unwahren nachzutrauern.'
E.M.Cioran / Gevierteilt.

EIN NEUES KÖRPERKINO

Tetsuo (Japan 1989) und Testuo II - Body Hammer (Japan 1991) nennt der Japaner Shinya Tsukamoto seine beiden rasanten Science-Fiction-Filme. In einer kollabierten Industrial-Welt verschmelzen Menschen, gleich David Cronenbergs und H.R.Gigers Biomechanoiden, mit metallenen Maschinen, vornehmlich mit Waffen, um sich Endkämpfe von archaischer Wucht zu liefern. Die Bildsprache paßte Tsukamoto dem monoton-hämmernden Rhythmus der Tonspur an: Suggestiv und rasend schnell sind Bilder aus schneidendem Schwarzweiß aneinandergereiht, die schon in ihrer rasendschnellen Kontrastmontage eine Verbindung von Fleisch und Metall/Maschine andeuten. Die Montage schafft die rythmisierte Verknüpfung, die dem Zuschauer die reizlastige Bilderflut ungefiltert ins Gehirn hämmert – Kino als Akt des Schmerzes. Tsukamoto kreierte so die eindringlichste filmische Umsetzung einer industrial-inspirierten sadomasochistischen Äthetik: Fleisch und Metall verschmelzen in eindeutig sexueller Konnotation letztendlich zu einer biomechanischen Waffe.

In einer eindrucksvollen Sequenz wird der Protagonist des ersten Teils von einem medusenhaft wuchernden biomechanoiden Mädchen qualvoll penetriert, was seine Transformation besiegelt – er wird ganz Piercing und Schmerz. Tsukamoto schließt hier deutlich an Tendenzen an, die bereits mit Aufkommen der historischen Epoche der Industrialisierung aktuell wurden: Die Auffassung des Körpers als mechanisches Objekt, die einen eventuellen Austausch von organischem Wesen und maschineller Kreatur möglich macht. Derartige Gedanken beeinflußten bereits Fritz Langs Idee der "zweiten Maria" in Metropolis (D 1925/26). Die Fetischisierung bzw. Sexualisierung mechanischer, vornehmlich metallischer Objekte erinnert an Marshall McLuhans Ideen aus "The Mechanical Bride" (1954) oder etwa James G. Ballards Roman "Crash" (1971) , der wohl nicht von Ungefähr erst 1996 ausgerechnet von David Cronenberg (Videodrom, 1983) visualisiert wurde. Der industrialisierte Mensch ist auf der Suche nach neuen Mythen fündig geworden im industriellen Alltag, dessen wuchernden, rhythmischen und letztlich sinnlichen Elementen sich nur zu leicht mythische Strukturen überstülpen lassen.

Bisheriger Höhepunkt von Tsukamotos Karriere ist das Boxerdrama Tokyo Fist (1995), in dem der Regisseur selbst zusammen mit seinem Burder Khoji Tsukamoto ein brutal rivalisierendes Freundespaar spielt. Während die beiden Tetsuo-Filme den Körperhorror auf der surrealen Ebene durchspielten, wendet er sich hier einem realen Ambiente und aktuellen Phänomenen der neunziger Jahre zu: Der Versicherungsvertreter Tsuda (Tsukamoto) begegnet unfreiwillig seinem früheren Schulkameraden Takuji (Khoji Tsukamoto) wieder, als dieser sich Tsudas Lebensgefährtin Hizuru in eindeutiger Absicht nähert. Die junge Frau geht auf Takuji Werben ein, zieht in seine Wohnung und beginnt, ihr neues Lebensgefühl parallel zu der gewalttätigen Rivalität der Männer in exzessivem Bodypiercing auszuleben. Tsuda beginnt, selbst Boxen zu lernen und löst damit einen Schwur ein, der die Männer seit ihrer Schulzeit verbindet; doch ein finale Begegnung der Haßfreunde im Ring findet schließlich nicht statt. Während sich Takuji eine blutige Schlacht mit einem weiteren Wunschgegner liefert, verarbeiten Tsuda und Hizuru die Beziehungskrise auf ihre eigene Weise: Sie fügen sich gegenseitig schwere Verletzungen zu. In der letzten Einstellung ist Tsuda, der sein rechtes Auge eingebüßt hat, wieder als emotional gebrochener Versicherungsvertreter zu sehen.

Dem jungen Regisseur Tsukamoto gelingt es, die in Tetsuo entwickelten Stilmittel nahtlos und konsequent in ein der Grundstruktur nach klassisches Dreiecks-Melodram zu integrieren: Pulsierende Stahlschlag-Rhythmen, ruhelose Handkamera und Stakkato-Schnitt lassen den Film selbst zur Großstadterfahrung werden. Er zeigt Charaktere im alltäglichen Leerlauf, auf dem Weg zur Arbeit, in U-Bahnen und vor dem Fernseher, die den Bezug zum komplexen Geflecht ihrer emotionalen Bedürfnisse längst verloren haben. Als der machohafte Takuji die monotone Zweisamkeit brachial durchbricht, reagieren die beiden Protagonisten mit hilfloser Radikalität. Hizuru gelingt es nur für kurze Zeit, eine Emanzipation von alltäglichen Banden äußerlich zu kultivieren, sie bleibt jedoch verstört und desorientiert zurück. Auch Tsudas kurzes, verbissenes Aufbegehren durch das Boxen endet in Verwirrung. Nahm er zu Beginn zumindest die Großstadt als innerlich kranke, verwesende Hochglanzmaske wahr - Tsukamoto findet dafür eindringliche Bilder -, scheint er am Ende gänzlich blind geworden zu sein: Mit seinem trüben, toten Auge steht er bewegungslos starrend auf einer einsamen Stahlbrücke... Modern Primitivism ließ vielleicht alle Beteiligten gleich werden vor dem Schmerz der Existenz, doch eine Rettung gab es für keinen...

Ebenfalls in einer Grauzone zwischen narrativem Film und teilweise selbstzweckhaftem Experimentieren bewegt sich Jim van Bebber, der mit einigen kurzen Promorollen und bislang einem abendfüllenden Spielfilm Aufsehen erregte. Sein Streetgang-Film Deadbeat at Dawn (USA 1990) ist sowohl inhaltlich als auch ästhetisch ein wütender Aufschrei gegen das kommerzielle Hollywoodkino. Ähnlich wie George Miller in The Road Warrior (Mad Max 2 - Der Vollstrecker, 1981) bringt van Bebber in einem verzweifelten Gewaltakt mit sich selbst in der Hauptrolle den Ausschuß des Actionkinos der achtziger Jahre zur Reife und treibt die Darstellung physischer Gewalt zu einem hysterischen Endpunkt. Zu befremdlichen Noisecollagen reißen sich seine Protagonisten mit bloßen Händen gegenseitig in Stücke. Und ähnlich wie Tsukamoto dient van Bebber die narrative Struktur lediglich als Zugangshilfe und zugleich als Falle für ein unbedarftes Filmpublikum. Auffällig ist die exzessive Verwendung akustischer Schockeffekte, die im Bild nur in sehr kurzen Einstellungen Entsprechungen finden, was als Stilmittel bereits aus dem italienischen und asiatischen Exploitationfilm der siebziger Jahre bekannt ist.

Nachdem seine Zusammenarbeit mit der kanadischen Band Skinny Puppy nach der Herstellung eines Videoclips keine weiteren Früchte getragen hatte, bot van Bebber in seinem formal sehr geschlossenen Kurzfilm My Sweet Satan (USA 1993) eine anschauliche Studie seiner bisherigen Themen. Anhand der Geschichte des drogenabhängigen, aggressiven Satanisten Ricky (van Bebber), der im Drogenrausch zusammen mit seinem Kumpanen einen jungen Mann "Satan opfert", schildert er eine drastische Kehrseitedes "Generation-X"-Phänomens. Die desorientierten, gelangweilten Jugendlichen hier verschaffen sich einen letzten Anschein möglicher Authentizität durch Drogenkonsum, Körperpiercing, Tattooing und naive Umsetzung neuheidnischer Tendenzen. Der vergleichsweise "glatte" Stil, mit dem van Bebber dieses Umfeld reflektiert, mischt quasidokumentarische Voice-Over, Standbilder, Einblendungen und minimalistische Spielszenen zu einer verstörenden Mixtur, die einen Großteil ihrer Wirkung aus der offenkundigen "Authentizität" von Milieu und Handlungen bezieht.

Van Bebber bedient sich der Ikonografie des Modern Primitivism, um einen Gegenentwurf zur populären, kommerziell orientierten Kultur zu liefern. Dieser antipopuläre Gestus scheint dem Bedürfnis zu entspringen, eine der kommerziellen Medienkultur verloren gegangene Intensität wiedergeben zu wollen. Im scheinbaren Bruch mit den sinnlichen Wahrnehmungsgewohnheiten des medienerfahrenen Publikums, den Irritationsmomenten, soll eine neue Erfahrung möglich werden, die Kunstrezeption zur "authentischen" Erfahrung werden läßt. Diese Irritation wird – anders als bei Tsukamoto, der eher an die Tradition des filmischen Surrealismus und Expressionismus anschließt – durch die Verweigerung gegenüber klassischen Spielfilmkonventionen erreicht: die Abwesenheit eines identifikationstauglichen Charakters; die streng auktoreale Erzählperspektive, die einem dokumentarischen Gestus gleicht; die Integration nachweislich real durchgeführter Körpermanipulationen (ein Nippelpiercing, Tätowierungen); die weitgehende Zerstörung eines Spannungsbogens durch Vorwegnahme des Endes, und die Bereitschaft, durch extremen Einsatz akustischer und visueller Effekte einen audiovisuellen Exzeß anzustreben, der in diesem Kontext - anders als im Splatterfilm der frühen achtziger Jahre – keinen unterhaltsamen, nervenkitzelnden Aspekt mehr bedient, sondern – im Idealfall – zur Peinigung des Rezipienten beiträgt. Wollte man diese Strategien etwa mit denen des frühen Luis Bunuel oder Antonin Artauds Ideen vergleichen, fällt erneut auf, wie nah sich zeitgenössische Industrial-Culture, Modern Primitivsm und klassische Avantgarde stehen.

Gary Wright, ein junger Australier, konnte sich außerhalb seines Landes bislang kaum durchsetzen. Sein rasantes Porträt einer Gruppe rechtsradikaler Skinheads in Melbourne namens Romper Stomper (1992), durch das Russell Crowe zum Star wurde, stieß vor allem in Deutschland auf Unverständnis, da Wright, jede der beteiligten Parteien – die Skins, die Vietnamesen, die Bürger und die Polizei – sehr destruktiv zeichnet und sich nie eine moralische Perspektive aneignet, wie sie sonst bei dieser Thematik üblich ist. Er zeichnet die Skins als Krieger ohne wirkliches Ziel, die sich an den eigenen Aggressionen aufreiben. In seinem Teeny-Drama Metal Skin (1995) widmete sich Wright gleich mehreren unterschiedlichen Subkulturen. Wie in Romper Stomper taucht auch hier eine mysteriöse Gothic-"Hexe" auf, die das Außeralltägliche in satanistisch motivierter Promiskuität sucht, während sich die männlichen Protagonisten in brutalen Autocrashs ums Leben bringen. Wieder verweigert der Regisseur die Identifikation und beobachtet aus zynischer Distanz die tödlichen, hilflosen Rituale einer entwurzelten Jugend, die er z.B. durch Zeitlupe und Stimmverzerrung mit Raubtieren paralellisiert.

Den einzigen deutlichen Versuch, Modern Primitivism tatsächlich rituell in einen Spielfilm einzuarbeiten, unternahm der angloafrikanische Regisseur Richard Stanley, der als Sohn einer Ethnologin in Namibia in engem Kontakt zu einer Schamanin aufwuchs. Er erzählt in Dust Devil (1994) die Geschichte eines nomadisierenden Dämons, der durch die Namib-Wüste wandert und willige Seelen sammelt, bis ihm eine mutige Frau den Kampf ansagt. In seiner Liebe zu ihr wird er zum Menschen und kann getötet werden – mit dem Ergebnis, daß sich das dämonische Erbe auf sie überträgt. Dieser teilweise meditative Horrorfilm macht sich stilistisch das schamanistische Symbol der Spirale eigen: Sie ist das Symbol der Transformation, der Wanderung zwischen den Welten. Der Dust Devil (Robert Burke) hinterläßt sie an den Schauplätzen seiner Morde. Nach der ersten Tat setzt er das Haus in Brand und fährt mit einem Auto genau dieses Symbol auf dem Vorplatz in den Sand, während sich die Kamera langsam in die Luft schraubt, eine gegenläufige Bewegung vollführend. Unterlegt ist der Film mit einer Mischung aus Italo-Western-Musik, gregorianischen Chorälen und rituellen Trommelrhythmen, einem Puls, der den ganzen Film reflektiert. Stanley, der die Gothic-Videos für Fields of the Nephilim inszeniert hatte, meint es nun todernst. Mehrfach hat er in Interviews betont, wie groß die weltanschauliche Bedeutung derartiger Dämonenwesen für ihn ist. In der Fusion aus Ideologie, Religion, Mystik, Meditation und Tribal-Style erinnert er an eine waghalsige Mischung aus Andrej Tarkowskij (Stalker), Clive Barkers Hellraiser und Kenneth Anger (Lucifer Rising).

Zunehmend werden auch Mainstreamfilme in Amerika produziert, die den Tribal-Style lediglich exploitativ ausstellen, um ihren abgenutzten Geschichten einen modischen Dreh zu geben. Ein solcher Fall ist Dee Snider’s Strangeland (USA 1998) von John Pieplow. Über den Internet-Chat lockt dort der Modern-Primitive-Killer "Captain Howdy" (Snider) die Teeny-Opfer in seine Wohnung. Recht bald kann ihn der Polizist Gage (Kevin Gage) überführen, als er nach seiner entführten Tochter sucht, doch Howdy wird bald als geläutert entlassen. Erst ein Lynchmob, der ihn exekutieren will, weckt erneut die Lust am Foltern und Morden... Das Modern-Primitve-Element dieses modisch-glatten Thrillers wird als "Eltern-Schreck"-Ambiente ausgenutzt und die S&M-Praktiken des Killers als verbrecherisch denunziert.

Die Schlüsselfiguren der amerikanischen Underground-Szene der achtziger Jahre, z.B. Foetus-Gründer J. G.Thirlwell, The Butthole Surfers oder auch Punk-Heroen wie Henry Rollins von Black Flagg und Lydia Lunch, sind präsent in einer ebenfalls in den frühen achtziger Jahren beginnenden Underground-Film-Strömung, die sich nach den programmatischen Artikeln eines ihrer Vertreter Nick Zedd "The Cinema of Transgression" benannte. Zedd war gleichzeitig einer der ersten Vertreter dieses ursprünglich auf New York fixierten Undergroundkinos. Im Zuge der Experimente Andy Warhols und des Trashfilms der siebziger Jahre (z.B. John Waters oder der späte Hershell Gordon Lewis) drehte er teilweise improvisierte, rauh und spontan gefilmte Experimental- und Kurzspielfilme, die sich des ganzen Fundus’ des Avantgardefilms bedienten (Doppelbelichtung, Doppelprojektion, Farbverfremdung, Medientransformation wie Video auf Film usw.). Gemäß seinem eigens verfaßten Konzept des Cinema Of Transgression handelte es sich hierbei um "the other cinema": "The Cinema of Transgression was about negated borders and the breaking of boundaries. Its stated aim was to perform revolutionary acts which would cross all socially constructed and socially accepted barriers. In a society where most people appear to have either the critical engagement of Romero’s Dawn of the Dead zombies, or be running in fear from their (socially dictated) demons, the COT sought a state of ‘awareness’, where perhaps even to feel pain and risk everything becomes valid when faced with the alternative." Der Akt des Grenzüberschreitens auf allen Ebenen, der Transgression, ist abgleitet von Georges Batailles Ideen aus "L’érotisme" (1957) . Die beteiligten Künstler schienen sich zum Teil bewußt über die Schwächen ihres bedingungslosen Konzept zu sein: "In terms of the sensibility of the people involved, I think that people regarded the COT as infantile, which it undoubtedly was, with all the fun involved in being completely fucking infantile, completely irresponsible. It definitely disturbed some people."

In nahezu allen Beiträgen zum COT steht der menschliche Körper im Mittelpunkt des Interesses. Es ist meist ein sexualisierter Körper, der handelt oder behandelt wird, der Körper des Modern Primitive. Wie schon bei van Bebber angedeutet spielt immer wieder die Authentizität des Dargestellten eine große Rolle: in Kerns Sewing Circle wird einer Frau die Vagina zugenäht, in seinem Pierce bekommt ein Mädchen beide Brustwarzen gepierct. Nick Zedd erzählt von einem weiteren Beispiel, das die Ästhetik des COT verdeutlicht: In War is Menstrual Envy filmte er, wie die Porno-Ikone Annie Sprinkle einem Opfer schwerer Brandwunden die Narben leckt. Auch er schließt hier an eine "Ästhetik des Häßlichen" an, die bereits im 19. Jahrhundert theoretisiert wurde, auf sehr rohe Weise also Elemente der "schwarzen Romantik" reflektiert.

Richard Kern gilt als namhaftester Vertreter der COT-Bewegung. Sein Stil wird in einem 12-minütigen Super-8-Film aus dem Jahr 1985 deutlich, der in seiner endgültigen Form seit 1990 auf Video kursiert und vermehrt auf Festivals gezeigt wird: Submit to Me. Kern filmt mehrere Freunde und Bekannte – u.a. Lydia Lunch, J.G. Thirlwell und Henry Rollins – bei der Inszenierung ihrer eigenen intimsten Fantasien in bühnenhaft arrangierten bzw. neutralen Räumen. Das reicht von dem phallischen Balzen Lunchs über den lasziven Tanz von Audrey Rose bis zu brutalen Tötungsphantasien in sadomasochistischer Ikonografie. Ein Höhepunkt ist der gegenseitig herbeigeführte "Liebestod" zweier Gothic-Waver, die sich strangulieren. Das episodenhafte Geschehen ist hauptsächlich durch die Musik der Butthole Surfers verbunden, gelegentlich kommt es auch zu Rückgriffen auf vorangegangene Episoden (Lydia Lunch taucht zweimal auf). Etwa in der Mitte wird in einzelnen Buchstaben das Wort "DESTROY" eingeblendet. Kern zeigt schon im Titel seine Präsenz als filmischer "Beichtvater". Er sieht sich stets in der Rolle des Evil Cameraman, ein Begriff, der einem späteren Film entlehnt ist. Der Voyeurismus des passionierten Filmemachers wird nicht nur offensichtlich, sondern gar Motivation des Werkes. Die menschliche Existenz wird in dieser Collage auf eine Präsenz des Körpers in Situationen sexuellen Ge- und Mißbrauchs reduziert. Zerstörung der eigenen Physis (der verwesende Junkie) oder der des "Sexualpartners" (die Erschießung des Sklaven) werden als lustvolles Erleben präsentiert. Auf hauptsächlich destruktive Weise überschreitet Submit to Me so die Grenzen des kommerziellen Erzählkinos, ohne dessen Ikonografie und Hauptansatzpunkte (Sex und Gewalt) auszusparen.

Ein weiterer Weg, über den Tribal-Style und Modern Primitivism ihren Weg in den kommerziellen Mainstream fanden, ist sicher eben jene Musik, die sich dieser Manierismen schon als Showelement bedinet hatte: Inspiriert durch den rauhen Industrial-Rock von Foetus gelang es der amerikanischen Gruppe Ministry 1988, mit ihrer LP The Land of Rape and Honey, den durch Modern-Primitives-Elemente aufbereiteten Industrial-Sound kommerziell verwertbar zu machen, indem sie ihn mit Versatzstücken der Rock- und Popmusik kombinierten. Ministry ist heute in zahlreichen kommerziellen Filmen vertreten (z.B. Escape from L.A. / Flucht aus L.A., USA 1995, John Carpenter). Aus dem selben Umfeld kommt Trent Reznor von Nine Inch Nails. Er gestaltete bis heute drei Soundtracks zu bekannten Hollywood-Filmen: Natural Born Killers, The Fan (USA 1996, Tony Scott) und Lost Highway (USA 1996, David Lynch). Er kombiniert in allen drei Fällen ursprünglichen Industrial-Noise mit Elementen von Popmusik (David Bowie, Lou Reed), Folk (Leonard Cohen), Ethno-Folklore (rituelle Indianer-Gesänge), Industrial-Rock (Marilyn Manson, Lard) und Avantgarde (Diamanda Galas, Coil). Vor allem seine eigenen Songs werden stets als inzwischen durchaus ritualisierte Signale für einen zutiefst verwirrten, destruktiven, pathologischen Geisteszustand eingesetzt, etwa bei Robert de Niros Gewaltakten in The Fan oder zu Beginn von Seven (Sieben, 1995, David Fincher). In den NIN-Videoclips (z.B. dem vielfach zensierten S&M-Clip Happiness in Slavery, 1995) und in Teilen von Oliver Stones Film Natural Born Killers kommt die von Richard Kern etc. kultivierte "rauhe" Bildsprache des grobkörnigen Super-8-Filmmaterials wieder zum Einsatz. Die Übernahme dieser lange Zeit spezifisch dem Underground zugerechneten Stilmittel signalisiert deutlich den Prozeß, durch den sich die Mainstream-Kultur ursprünglich subkulturelle Elemente dienlich macht.

Auch Graeme Revell, einer der Gründer der Industrial-Bewegung mit seiner Gruppe S.P.K., die immer ein starkes Interesse an Körpertechniken bewies, hat sich zusammen mit seinem früheren Kollegen Brian Williams in Hollywood etabliert. Revell arbeitet als stilistisch vielseitiger Komponist – routiniert im Einsatz klassischer Kompositionstechniken und rhythmisch-ritueller Elemente gleichermaßen –, während Brian Williams als Tondesigner tätig ist (Hard Target / Harte Ziele, USA 1993, John Woo; Strange Days). Revells Arbeiten für Strange Days und mehr noch Alex Proyas’ gothic-Thriller The Crow (The Crow - Die Krähe, USA 1994), an dem auch Trent Reznor beteiligt war, und Tim Popes The Crow - City of Angels (The Crow - Die Rache der Krähe, USA 1996) schließen den Kreis zum Modern-Primitives-inspirierten Underground: Hier spielen in großem Umfang auch die Körpermanipulationen und -modifikationen des Cinema of Transgression eine große Rolle. Der durchbohrte, vernarbte, gedehnte, tätowierte und bemalte Körper ist zu einer neuen Spielwiese Hollywoods geworden.

Das Überschreiten der "zivilisierten Grenze", der Modern Primitivism, wie er als Mode und deren mediale Reflexion in Film und Musik exisitiert, verdeutlicht erneut jene "Dialektik der Aufklärung", die eine aufgeklärte Gesellschaft immer wieder zur Kultivierung "barabarischer" Mechanismen zwingt. Der lustvolle Schmerz dient als Ersatz für eine fehlende Initiation und für mangelnde existenzielle Erfahrungen. Er befreit das gesellschaftlich gebundene Wesen aus seinen alltäglichen und geschlechtlichen Zwängen und läßt es eins mit sich werden. In der Konfrontation mit der erzwungenen Grenzerfahrung sucht der Mensch die individuelle Erfahrung, die seine domestizierte Welt verlöschen läßt. Was für den Besucher des Marilyn-Manson-Konzerts zum Traum und dem Zuschauer eines Tsukamoto-Films zur simulierten Authentizität gerät, kann sich der weibliche wie männliche Modern Primitive in seine eigene kleine, vielleicht wirklich individuelle Welt holen: die nur ihm selbst eigene physische Entäußerung: die selbstbestimmte, selbst erlittene neue Körperöffnung...


Filmografie der im Text erwähnten Filme mit Bezug zum Thema:
Chunk Blower (Kan 1991, Jim van Bebber)
City of the Lost Children / Stadt der verlorenen Kinder (F 1996, Jeunet und Caro)
Crash / Crash (Kann 1996, David Cronenberg)
Dark City / Dark City (AUS / USA 1998, Alex Proyas)
Deadbeat at Dawn (USA 1990, Jim van Bebber)
Edward Scissorhands / Edward mit den Scherenhänden (USA 1990, Tim Burton)
Escape from L.A. / Flucht aus L.A. (USA 1995, John Carpenter)
Fingered (USA 1986, Richard Kern)
Hardware / M.A.R.K. 13 (GB 1990, Richard Stanley)
Hellraiser / Hellraiser - Das Tor zur Hölle (GB 1987, Clive Barker)
The Hunger / Begierde (USA 1982, Tony Scott)
Metal Skin (AUS 1995, Geoffrey Wright)
My Sweet Satan (USA 1993, Jim van Bebber)
Natural Born Killers / Natural Born Killers (USA 1994, Oliver Stone)
Once Were Warriors / Die letzte Kriegerin (NZ 1996, Lee Tamahori)
Pierce (USA 1986, Richard Kern)
Post-Modern Primitves (USA 1996, Charles Gatewood)
Romper Stomper (AUS 1992, Geoffrey Wright)
Sewing Circle (USA 1992, Richard Kern)
Spasmolytic (KAN 1990, Jim van Bebber)
Strange Days / Strange Days (USA 1995, Kathryn Bigelow)
Strangeland (USA 1998, John Pieplow)
Submit to Me (USA 1985, Richard Kern)
Tetsuo - The Iron Man (Jap 1989, Shinja Tsukamoto)
Tetsuo II - Body Hammer (Jap 1991, Shinja Tsukamoto)
The Craft / Der Hexenclub (USA 1996, Andrew Fleming)
The Crow - City of Angels / The Crow - Die Rache der Krähe (USA 1996, Tim Pope)
The Crow / The Crow - Die Krähe (USA 1994, Alex Proyas)
The Evil Cameraman (USA 1986-1990, Richard Kern)
The Road Warrior / Mad Max 2 - Der Vollstrecker (Aus 1981, George Miller)
Tokyo Fist (Jap 1995, Shinja Tsukamoto)
Videodrome / Videodrome (Kann 1983, David Cronenberg)
War is Menstrual Envy (USA 1992, Nick Zedd)Alle Filme sind bei Videodrom, Berlin, auf Video erhältlich, falls die Berliner Staatsanwaltschaft nicht wieder den moralischen Hammer schwingt.

Bibliografie:
Antonin Artaud: Das Theater und sein Double, München 1996
Jean Baudrillard: Die Transparenz des Bösen, Berlin 1992
Karl Heinz Bohrer: Nach der Natur, München / Wien 1988 (S.110ff.)
Jeff Conner / Robert Zuckerman: The Crow - The Movie, Kanada 1994
Jeff Conner / Robert Zuckerman: The Crow - City of Angels. A Diary of the Film, London 1996
Mark Dery: Cyber - Die Kultur der Zukunft, Berlin 1996
Jürgen Felix (Hrsg.): Unter die Haut, St. Augustin 1998
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt / M. 1975
Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1987
Christoph Grunenberg (Hrsg.): Gothic – Transmutations of Horror in Late Twentieth Century Art, Cambridge / London 1997
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969 / 1981 (S.265ff.)
Andrea Juno und V.Vale: RE/Search Industrial Culture Handbook, San Francisco 1983
Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982
Bernd Kiefer: Der mimetische Impuls, in: Littérature & Civilisation au capes et á l’agrégation d’allemand, session 1996, Nancy 1996, S.155ff.
Nick Hall: Modern Primitives, in: ON Nr.1/1997
Ted Polhemus / Housk Randall: The Customized Body, London 1996
Ted Polhemus / Housk Randall: Rituals of Love, London 1995
Jens Pöppelmann: Tetsuo roniniert Akira und Manson nails pigs, in: Revelation Nr.9
Housk Randall: Piercing. Ritual - Kunst - Mode, Rastatt 1998
Tuck Remington: Nine Inch Nails, London / New York / Paris / Sidney 1994
Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996
Richard Stanley: "I Wake Up, Screaming", in: John Boorman / Walter Donohue (Hrsg.): Projections 3. Film-makers on Film-making, London / Boston 1994, S. 225-262
Wolfgang Sterneck: Cybertribe-Visionen, Hanau 1996 / 1999
Marcus Stiglegger: Ein "Kino der Grausamkeit" - Film als exitenzielles Ritual, in: Filmdienst, 52. Jhg., Dez. 1999,
ders.: Fin de siècle - fin du globe - Endzeitstimmung im Film der neunziger Jahre, in: Filmdienst, 51. Jhg., 1998,
ders.: Renaissance des Fin de siècle, in: Zoom, Dezember 1998, S. 14-18
ders.: Zum Sehen zwingen. Die neue Körperlichkeit des Films, in: Filmdienst, 52. Jg., März 1999, S. 6-9
Daniel Wojcik: Punk and Neo-Tribal Body-Art, Jackson / Mississippi 1995
Véronique Zbinden: Piercing. Archaische Riten und modernes Leben, Engerda 1998

Credits:
Zu Dank bin ich folgenden Personen verpflichtet:
Stefan Baumert für mein erstes Piercing, Wolfgang Sterneck für inspirierende Gedanken,
Bernd Kiefer für die Dialektik der Erkenntnis, Mark Vierheller für Happiness in Slavery,
Graf Haufen für AV-Software und Carsten Landefeld für die schwarzen Sonnenräder.

Dieser Artikel ist dem Andenken von Stefan Baumert geweiht,
der im Jahr 1*998 A.S. freiwillig aus dem Leben schied.

- Für Cindy -

Ikonen Magazin



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