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Wolfgang Sterneck
STILLE UND BEWUSSTSEIN
In diesem Moment
Die Augen schließen
Und hören
Bewusst hören
Bewusst sein
Im Alltag setzt ein tatsächlich tief greifendes Musikverständnis
ein bewusstes Hören bzw. ein bewusstes Erfahren und Erleben
von Geräuschen und Klängen voraus. Gerade in der heutigen
Zeit, in der ständige Maschinengeräusche, angefangen beim
Brummen des Kühlschranks bis zum Lärm der Automotoren,
genauso wie die Musik aus Kassettenrecordern, Radio- und Fernsehgeräten
eine fast allgegenwärtige Geräuschkulisse bilden, ist
ein solches Verständnis kaum verbreitet.
Vielen Menschen dient diese akustische Umgebung zur zerstreuenden
Ablenkung und zur Flucht vor sich selbst. Entsprechend wird eine
Abwesenheit dieser Geräusche zumeist als äußerst
unangenehm empfunden.
Ein bewusstes Erleben eines Zustandes der Stille, den es genau genommen
nicht gibt, da selbst bei völliger äußerer Stille
die Rhythmen des Körpers vernehmbar sind, kann helfen, sich
auf die eigentliche Persönlichkeit zu konzentrieren. Es kann
auch dazu beitragen, einzelne Klänge und Geräusche, die
sonst nicht wahrgenommen werden, in ihren Vielfältigkeiten
zu erfahren und ein neues Verhältnis zu den umgebenden, wie
auch zu den inneren Abläufen zu erlangen.
Den Vorstellungen des wegweisenden Avantgarde-Komponisten John Cage
(1912-1992) zufolge, hat jede Form des Seins letztlich die gleiche
Wertigkeit, unabhängig davon, ob sie sich ihrer selbst subjektiv
bewusst ist, wie in der Regel der Mensch, oder unbewusst, wie ein
Sandkorn. Entsprechend war für Cage jeder Klang, jedes Geräusch
und jeder Ton gleichwertig, egal ob er von einer Flöte oder
von einem fallenden Stein hervorgerufen wird. Beide haben ihre ursprüngliche
Bedeutung in sich selbst. Mit seinem offenen Verständnis von
Musik, das ausdrücklich Geräusche aller Art einbezieht
bildete er einen wichtigen Ausgangspunkt für unterschiedlichste
Musikrichtungen von Ambient bis zu Industrial.
Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Verständnisses
bildete für Cage ein kurzzeitiger Aufenthalt in einem schalldichten
Raum an der Harvard University in Cambridge. Trotz der Abschottung
stellte Cage überrascht fest, dass er nicht etwa eine völlige
Abwesenheit jeglicher akustischer Einflüsse erlebte, sondern
Geräusche hörte.
Der zuständige Techniker erklärte ihm später, dass
er verschiedene Abläufe in seinem Körper vernommen hatte.
”Ich hörte, dass Schweigen, Stille, nicht die Abwesenheit
von Geräusch war, sondern das absichtslose Funktionieren meines
Nervensystems und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, dass die
Stille nicht akustisch ist. Es ist eine Bewusstseinsveränderung,
eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde
zu einer Erkundung des Absichtslosen.”
Das veränderte Verständnis der Stille führte zur
Komposition von ”4,33”, einem Stück in dem kein
Geräusch absichtlich erzeugt wird. Die Aufgabe der beteiligten
MusikerInnen ist es, die Bühne zu betreten und sie nach einer
Zeitspanne von 4,33 Minuten wieder zu verlassen ohne ein Instrument
gespielt zu haben. Die Musik besteht aus den Geräuschen des
Publikums, einem Husten, Flüstern oder auch aus Protestrufen,
genauso wie beispielsweise aus den Geräuschen einer quietschenden
Tür, eines vorbeifahrenden Lastwagens oder eines Regengusses.
Einige Jahre nach der Komposition von ”4,33” erklärte
Cage in einem Interview, dass er das Stück nicht mehr benötige,
da er inzwischen in der Lage sei, das Stück immerfort zu hören.
”Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen
oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören,
wenn wir ruhig sind.”
Cage reduzierte sein Verständnis einer bewussten Wahrnehmung
keineswegs nur auf den musikalischen Bereich. Letztlich ist sein
Ansatz eines bewussten Hörens auch der Ansatz einer bewussten
Wahrnehmung von all dem was uns umgibt, nicht zuletzt auch der gesellschaftlichen
Verhältnisse. ”Wir brauchen eine Musik, in der nicht
nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen
einfach Menschen, dass heißt keinen Regeln unterworfen, die
einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es ’der Komponist’
oder ’der Dirigent’ wäre. Bewegungsfreiheit ist
die Grundlage dieser neuen Kunst und einer neuen funktionierenden
Gesellschaft mit Menschen, die ohne Anführer und Oberhaupt
zusammenleben.”
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www.sterneck.net

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