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Wolfgang Sterneck:
SHANGHAI - DAS ENDE DER ZUKUNFT
- Wer ist schneller?
- Rechtlos auf den Baustellen
- Manager und Kommunisten schütteln sich die Hände
- In zwanzig Jahren vom Reisfeld zum High-Tech-Zentrum
- Die futuristische Skyline als Demonstration der Macht
- Die Slums hinter den Hochhaus-Ghettos
- Der Smog des Profits
- Verinnerlichte Unterdrückung
- Konsum statt Kommunismus
- Mao schadet dem Standortfaktor
- Die Glücksversprechen des Konsums
- Das Ende der Zukunft
- * -
SHANGHAI - DAS ENDE DER ZUKUNFT
Shanghai gilt als Weltstadt, in der schon jetzt die Zukunft
Gestalt angenommen hat. Von Mao und kommunistischen Visionen ist
nichts mehr zu spüren, stattdessen scheint Shanghai als "Boom-Town"
weltweit in Bezug auf technologischen Fortschritt und ökonomisches
Wachstum neue Maßstäbe zu setzen.
Doch hinter den Fassaden futuristisch anmutender Wolkenkratzer und
luxuriöser Konsumtempel verbergen sich Elendsviertel und Polizeikasernen.
Während die Wanderarbeiterinnen auf den Baustellen ausgebeutet
werden, wird repressiv gegen Gruppen vorgegangen, die sich gegen
die Zensur der Medien oder die ökologischen Missstände
wenden.
WER IST SCHNELLER?
In vielen Taxis in Shanghai sind zur Unterhaltung der Fahrgäste
Bildschirme installiert, auf denen in ständiger Wiederholung
Werbeclips, Animationen und auch einige Sketche laufen. In einer
dieser kurzen, inhaltlich eher schlicht gehaltenen Filmsequenzen
sieht man mehrere Personen an einer Straße warten. Als ein
Taxi in einiger Entfernung anhält, setzt ein Wettrennen ein.
Anfangs ist ein dynamischer junger Mann der schnellste. Doch dann
wird er von einer fülligen Frau überholt, die als erste
das Taxi erreicht und darin Platz nimmt. Als der Mann hechelnd nachkommt,
ruft sie ihm noch locker etwas zu, um dann den Fahrer anzuweisen,
loszufahren.
Es ist eine Szene, die geradezu symbolhaft für das Shanghai
der Gegenwart steht. Die Frau wartet nicht, um das Taxi zu teilen.
Vielmehr geht es einzig darum, am schnellsten zu sein und die Konkurrenz
auszustechen. Im Zentrum steht das eigene Ego beziehungsweise der
persönliche Erfolg. Wer in diesem unablässigen Konkurrenzkampf
unterliegt, bleibt zurück.
Es ist ebenso widersprüchlich wie auch charakteristisch, dass
diese urkapitalistischen Prinzipien gerade in der Volksrepublik
China eine überragende Dominanz erhalten haben. China ist zu
einer Weltmacht geworden, die sich längst von den Prinzipien
der Revolution von 1949 verabschiedet hat. Die ökonomischen
und sozialen Bedingungen der Gegenwart erinnern inzwischen zum Teil
eher an die inhumane Frühphase des Kapitalismus, als an einen
Staat, der die klassenlose kommunistische Gesellschaft als Ziel
vorgibt.
RECHTLOS AUF DEN BAUSTELLEN
Insbesondere die WanderarbeiterInnen, die einen wesentlichen Faktor
für den enormen ökonomischen Aufschwung Chinas bilden,
leiden unter den Bedingungen. Inzwischen geht man von rund 200 Millionen
umherziehenden Menschen aus, die als billige Arbeitskräfte
vor allem in den Fabriken und auf den Baustellen der rapide anwachsenden
Stadtregionen ausgebeutet werden.
Die hohe Arbeitslosigkeit bzw. der Konkurrenzkampf um kurzzeitige
Arbeitsplätze bei minimalen Löhnen unterhalb des Existenzminimums
ohne soziale Absicherungen haben zu einer Verelendung geführt.
Bezeichnender Weise stieg gleichzeitig die Zahl der Millionäre
und Milliardäre. Wie in kaum einem anderen Land wächst
die Kluft zwischen großen Teilen der Bevölkerung und
einer kleinen, in Luxus lebenden Schicht.
Vielfach können sich die ArbeiterInnen die nötigen Aufenthaltspapiere
für die Städte nicht leisten und halten sich dort im Verständnis
der Staatsorgane illegal auf. Da oftmals auch keine Arbeitsverträge
abgeschlossen werden, werden die Löhne nach der Ausübung
der vereinbarten Tätigkeit zum Teil gedrückt oder verweigert.
Unabhängige Zusammenschlüsse der ArbeiterInnen gibt es
praktisch nicht. Auf Ansätze einer Organisierung oder gar eines
Protestes reagieren die Staatsorgane mit unnachgiebiger Härte.
MANAGER UND KOMMUNISTEN SCHÜTTELN SICH DIE HÄNDE
Die offiziellen Begrifflichkeiten wie "Sozialistische Marktwirtschaft"
wirken für die WanderarbeiterInnen bestenfalls wie ein Hohn.
Deng Xiaoping als Nachfolger des Staatsgründers Mao Zedong
hielt am diktatorischen Einparteien-System fest, leitete jedoch
weit reichende ökonomische Reformen ein. Diese zielten auf
eine Privatisierung großer Teile der Wirtschaft, die inzwischen
vorrangig an den kommerziellen Vorgaben des Marktes ausgerichtet
ist. Während der ökonomische Bereich stark liberalisiert
wurde, wird weiterhin repressiv gegen kritische und oppositionelle
Positionen vorgegangen. So werden Presse und Internet scharf kontrolliert
bzw. zensiert, während gleichzeitig viele Oppositionelle von
der Öffentlichkeit unbemerkt zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt werden und in Straflagern verschwinden.
Wenn sich heute Funktionäre der Kommunistischen Partei und
Manager multinationaler Konzerne in Luxus-Suiten lächelnd die
Hände schütteln und neue Verträge abschließen,
dann geht es vor allem um Macht und Profit. George Orwell beschrieb
in diesem Sinne schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts in "Animal
Farm" die Entwicklung der Russischen Revolution, die einen
ähnlichen Verlauf nahm wie die Revolution in China, als Parabel.
Die rechtlosen Tiere erhoben sich gegen die Ausbeutung durch die
Menschen. Doch nach dem siegreichen Aufstand etablierte sich mit
den Schweinen schnell eine neue Machtelite, welche unter veränderten
Vorzeichen die Ausbeutung fortsetzten und bald mit den einstigen
Machthabern wieder zusammenarbeiteten. Am Ende war es nicht mehr
möglich, zwischen den alten und neuen Herrschern zu unterscheiden.
IN ZWANZIG JAHREN VOM REISFELD ZUM HIGH-TECH-ZENTRUM
Um den chinesischen Markt auch für multinationale Konzerne
interessant zu machen, wurden Sonderwirtschaftszonen eingerichtet,
in denen unter anderem Steuervergünstigungen und vereinfachte
verwaltungsrechtliche Bedingungen gewährt werden, sowie günstig
Bauland angeboten wird.
Als herausragendes und in ökonomischer Hinsicht besonders erfolgreiches
Beispiel gilt der Stadtteil Pudong in Shanghai. Noch 1990 befanden
sich dort im wesentlichen Felder und brachliegende Flächen.
In Folge der Ernennung zu einer Sonderwirtschaftszone und der besonderen
Bedeutung, welche die chinesische Regierung der Entwicklung Pudongs
zumaß, erlangte der Stadtteil innerhalb von nur zwei Jahrzehnten
eine herausragende Bedeutung. Inzwischen ist Pudong ein internationaler
Kontenpunkt im Bereich der Informations-, Elektro- und Biotechnologie,
sowie im Finanzsektor. Das wirtschaftliche Wachstum lag offiziellen
Angaben zufolge trotz weltweiter Krisen in den letzten Jahren durchgängig
im zweistelligen Bereich.
Wie kein anderes Land gilt China als Markt mit gigantischen Expansionsmöglichkeiten
und Gewinnspannen, wobei Shanghai dabei eine herausragende Rolle
einnimmt. Ein Konzern, der in der Stadt nicht präsent ist und
investiert, hat in ganz China den Anschluss verpasst. Bezeichnender
Weise präsentieren beispielsweise Mercedes-Benz und Porsche
neue Modelle nicht mehr vorrangig auf den lange weltweit führenden
Auto-Messen in Detroit, Frankfurt oder Tokio, sondern gezielt am
chinesischen Absatzmarkt ausgerichtet vor ausgewählten Gästen
im World Financial Center in Shanghai.
DIE FUTURISTISCHE SKYLINE ALS DEMONSTRATION DER MACHT
In atemberaubender Schnelligkeit entstand in Pudong eine futuristische
Skyline. Der Stadtteil scheint fast nur aus Wolkenkratzern zu bestehen,
die sich in Höhe und Gestaltung gegenseitig übertreffen.
So sind unter anderem der Jin Mao Tower, das World Financial Center
und der Oriental Pearl Tower in ihrer imposanten Gestaltung jeweils
weit über 400 Meter hoch. Der im Bau befindliche Shanghai Tower
wird diese gigantischen Gebäude dann noch einmal deutlich überragen.
Die Wirkung der abends angestrahlten Skyline ist dabei je nach innerer
Perspektive der BetrachterInnen völlig beeindruckend und wegweisend
oder aber erdrückend und als Ausdruck menschlichen Größenwahns
beschämend.
In Bezug auf die Zahl der Wolkenkratzer und entsprechender Superlative
ist Shanghai bzw. Pudong weltweit inzwischen nahezu einzigartig.
Pudong dient dabei keineswegs nur als Spielwiese internationaler
Stararchitekten, sondern zielt strategisch auf die visuelle Manifestation
der Volksrepublik Chinas als wirtschaftliche und technologische
Supermacht. Architektur ist auf dieser Ebene weder beliebig noch
neutral, sondern immer ein Ausdruck bzw. oftmals auch eine Verstärkung
von Machtverhältnissen.
DIE SLUMS HINTER DEN HOCHHAUS-GHETTOS
Die Skyline Pudongs prägt vielfach die Wahrnehmung Shanghais.
Das eigentliche Shanghai ist jedoch nicht von modernen Wolkekratzern
bestimmt, sondern von endlos anmutenden Hochhaus-Ghettos. Ein Gefühl
der Enge durchzieht die gesamte Stadt. Gebäude mit vierzig
oder fünfzig Stockwerken sind dabei keine Ausnahme, sondern
die Regel. Bis zum Horizont erstreckt sich die Stadt mit ihren zahllosen
Hochhaus-Siedlungen. Westeuropäische Metropolen wie London,
Paris oder Berlin wirken im Vergleich geradezu überschaubar.
Trotz der staatlich vorgegebenen Ein-Kind-Politik und vielfältiger
restriktiver Vorgaben hinsichtlich der Wohnerlaubnis wächst
die Zahl der Personen, die in Shanghai wohnen oder sich dort zumindest
eine längere Zeit aufhalten, beständig an. Die Schätzungen
liegen bei rund 20 Millionen Menschen. Ein wesentlicher Teil davon
wohnt in gleichförmigen, meist in grau gehaltenen Hochhäusern.
Trotz einer umfassenden Förderung des Wohnungsbaus liegt die
durchschnittliche Wohnfläche einer Person bei nur rund neun
Quadratmetern.
An den Stadträndern und auf den letzten verbliebenen Bebauungsflächen
in den inneren Bereichen sind in den letzten Jahren zunehmend Slums
entstanden. Zum Teil sind es Blechhütten, in anderen Fällen
alte, baufällige Gebäude, die nach kurzzeitigem Leerstand
wieder bewohnt werden, bevor sie neuen Hochhäusern weichen.
Um die Bevölkerung in den Slums bzw. den Zuzug in die Stadt
besser kontrollieren zu können, sind auch in ansonsten weitgehend
verwahrlosten Bereichen Straßenschilder aufgestellt und Häuser
wie Baracken mit Nummern versehen.
Die meisten BewohnerInnen dieser Stadtviertel leben am Existenzminimum.
Viele bestreiten ihren Lebensunterhalt über das Sammeln von
Müll bzw. Sortieren und Weiterverkaufen von Papier, Glas und
Plastik oder bieten sich an bestimmten Treffpunkten Tag für
Tag als billige Arbeitskraft an. Gleichzeitig zeigt sich wie so
oft gerade in den Slums eine Kultur der Solidarität und Offenheit,
die sich deutlich von der sonst vorherrschenden Ausrichtung an Konsum
und Egozentrik abhebt.
DER SMOG DES PROFITS
Die politischen Entscheidungen in Shanghai sind durchgängig
vor allem am Ziel des Wirtschaftswachstums ausgerichtet. Langfristig
soll darüber der materielle Wohlstand der gesamten Bevölkerung
gehoben werden. Ökologische Aspekte wurden dabei lange völlig
ignoriert. In den neunziger Jahren nahm Shanghai in internationalen
Auflistungen der Städte mit den höchsten Umweltbelastungen
durchgängig einen vorderen Platz ein.
Erst in den letzten Jahren kam es zu einem ersten Bewusstseinswandel
und in einigen Bereichen zu leichten Verbesserungen, doch noch immer
ist Shanghai weit von einem auch nur ansatzweise akzeptablen Status
entfernt. So ist die Stadt an vielen Tagen insbesondere durch die
starken Emissionen im Zusammenhang mit der Industrieproduktion von
Smog überzogen. Gleichzeitig ist es nicht gelungen der starken
Verschmutzung des zentralen Huangpu-Flusses und seiner Nebenströme
entscheidend entgegenzuwirken.
Um Shanghai auch im ökologischen Bereich ein neues Image zu
geben und sich gleichzeitig auch in diesem Kontext ökonomisch
eine weltweit führende Position zu sichern, sollte im Stadtteil
Dongtan eine Ökostadt entstehen. Nachdem es jedoch nicht gelang,
das Projekt planungsgemäß bis zur prestigeträchtigen
Weltausstellung "Shanghai World Expo" 2010 zu realisieren,
wurde es eingestellt. Das Motto der Expo "Better City, Better
Life" erwies sich dadurch auch auf dieser Ebene als ein Marketingslogan,
der in Anbetracht der sozialen und ökologischen Realitäten
bestenfalls zynisch wirkt.
VERINNERLICHTE UNTERDRÜCKUNG
Die rund zweieinhalbtausend Jahre alten Lehren von Konfuzius haben
bis in die Gegenwart die diversen Epochen der chinesischen Geschichte
mit all ihren Unterschiedlichkeiten nicht nur nahezu unbeschadet
überstanden, sie bildeten vielmehr weiterhin eine wesentliche
soziokulturelle Basis. Die Ausrichtung an der Familie und strengen
sozialen Hierarchien, die Betonung von Unterordnung, Pflicht und
Gehorsam, sowie das Überdecken von Konflikten in der Außendarstellung
zugunsten eines harmonisierten Erscheinungsbildes, prägen bis
heute weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
Unabhängig von ihren konkreten sozialpolitischen Ausrichtungen
konnten in diesem Gefüge neue Machthaber die Position ihrer
Vorgänger einnehmen. Ob es nun ein vermeintlicher Gottkönig
oder der allmächtige "Große Vorsitzende" der
Partei war, die patriarchalen Strukturen blieben im Kern die gleichen.
Das Konstrukt Familie wurde im konfuzianischen Verständnis
automatisch auf den Staat übertragen, wodurch der entsprechende
Machthaber die Rolle des bestimmenden Vaters einnahm. Das Gesellschaftssystem
entsprach wiederum den familiären Rahmenbedingungen, denen
man sich unterzuordnen hat.
Schon in der Erziehung und in der Schule geht es bis in die Gegenwart
des modernen China nicht um die Entwicklung eigenständigen
Denkens, sondern um Anpassung und Nachahmung bzw. das Auswendiglernen
des Vorgegebenen. Ein selbstbestimmter Lebensweg oder gar die Entwicklung
einer oppositionellen Grundhaltung entsprechen dagegen einem Bruch
mit den konfuzianischen Grundregeln. Ebenso sollen Differenzen,
Probleme oder kritische Betrachtungsweisen nicht nach außen
dringen, um das Bild einer harmonisch funktionierenden Familie bzw.
Gesellschaft aufrecht zu erhalten.
KONSUM STATT KOMMUNISMUS
Mao Zedong bestimmte entscheidend über Jahrzehnte hinweg als
Revolutionsführer bzw. als Partei- und Staatschef die Entwicklungen
Chinas. Auch wenn es nach seinem Tod im Jahr 1976 in einigen Punkten
zu einer Abkehr vom Maoismus kam, so wird er weiterhin auf offizieller
Ebene als herausragende Leitfigur verehrt.
Grundlegend gewandelt hat sich jedoch die Präsenz Maos in der
Öffentlichkeit. Im Zuge eines extremen Personenkultes in der
Tradition der Götter- und Kaiserverehrungen war sein Porträt
als gigantisches Fassadenbild in den Straßen genauso wie in
Wohnungen, sowie als Abzeichen allgegenwärtig. Maos Schriften
bzw. zeitweise insbesondere das "Rote Buch" mit Zitaten
von ihm hatten den Status einer Staatsdoktrin.
Inzwischen gelten die Lehren Maos als Relikt der Vergangenheit.
Meist wird nur noch auf ihn zurückgegriffen, um die vorherrschende
Stellung der Partei zu rechtfertigen. Bezeichnender Weise ist das
Portrait-Bild Maos im alltäglichen Leben inhaltlich entleert
nur noch auf Geldscheinen zu finden. Aus dem Stadtbild Shanghais
sind dagegen Mao-Bilder genauso wie politische Spruchbänder
der Kommunistischen Partei völlig verschwunden. Ersetzt wurden
sie durch gigantische, bunt beleuchtete Werbefassaden, die nicht
mehr das Glück im maoistischen Sozialismus preisen, sondern
die Heilsversprechen in die Scheinwelt des Konsums übertragen
haben.
MAO SCHADET DEM STANDORTFAKTOR
Die Lehren von Mao Zedong passen längst nicht mehr in die Welt
des Neo-Liberalismus, der auch die Volksrepublik Chinas durchzogen
hat. Um die Position auf dem Weltmarkt auszubauen, wird alles versucht,
um den Standortfaktor Shanghais zu stärken. Der offene Bezug
auf Mao wäre in diesem Sinne schlecht für das Image der
Stadt.
Angehörigen der Mittelschicht ist es meist eher unangenehm
oder gar peinlich auf Mao angesprochen zu werden. Man definiert
sich lieber über die neuen Konsumprodukte und verbannt den
Staatsgründer in die Geschichtsbücher. Auch in den verarmten
Vorstädten und Slums bezieht sich längst niemand mehr
auf Mao. Im alltäglichen Überlebenskampf erscheint es
hier egal, wer gerade an den Hebeln der Macht sitzt.
Und so findet sich das Rote Buch von Mao in einer Neuauflage pop-kulturell
vermarktet nur noch in den Souvenir-Shops. In den inzwischen antiquarischen
Originalversionen werden die Schriften von Mao daneben vereinzelt
von StraßenhändlerInnen zwischen Imitaten westlicher
Uhren und schrillen Spielzeugfiguren angeboten. Wenn dann Polizeikräfte
auftauchen, um den illegalisierten Straßenverkauf zu unterbinden,
verschwinden die Bücher des Staatsgründers mit all den
anderen Produkten in großen Taschen, die dann einige Straßen
weiter wieder ausgelegt werden.
DIE GLÜCKSVERSPRECHEN DES KONSUMS
Shanghai hat längst die Vermarktungsmechanismen der globalisierten
Welt übernommen. Die zahlreichen Einkaufsstraßen unterscheiden
sich kaum von westlichen Shopping-Malls. Wie in anderen Metropolen
sind ganze Straßenzüge von beleuchteten Fassaden und
riesigen Bildschirmen mit Werbebotschaften bestimmt. Die Produkte
stammen, sofern sie nicht kopiert sind, zumeist von den gleichen
multinationalen Konzernen, die derzeit auch in Amerika und Europa
den Markt bestimmen.
In der Welt des Konsums und des Kommerzes reduziert sich vieles
auf den äußeren Schein. So besteht die ehemalige Altstadt
Shanghais inzwischen im Wesentlichen aus neuen, äußerlich
in der traditionellen Bauweise errichteten Häusern. Einem riesigen
Einkaufszentrum gleichend, beherbergen sie allerdings jeweils modern
gestylte Geschäfte für die TouristInnen, die sich durch
die Gassen drängen. Die Bezeichnung "Altstadt" ist
wie der Baustil zu einer reinen Produktverpackung geworden.
Eine innere Leere drücken auch die großformatigen, bunten
Werbeflächen aus, die auf grauen Betonwänden oder direkt
an den nicht weniger eintönigen Hochhäusern angebracht
sind. Die Glücksversprechen des Konsums wirken dabei entlarvend
und betäubend zugleich.
DAS ENDE DER ZUKUNFT
Es ist ein Merkmal der globalisierten Welt, dass die allgegenwärtige
Sehnsucht nach Glück nicht in einer freien, gemeinschaftlichen
Entfaltung mündet, sondern in Konsumprodukten eine scheinbare
Befriedigung findet. Um ein autoritäres System langfristig
aufrecht zu erhalten, bedarf es nicht nur einer militärischen
Stärke. Entscheidend ist vielmehr, ob es gelingt die entsprechenden
Strukturen auch im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Die Ausrichtung
an der konfuzianischen Lebensphilosophie in Verbindung mit konsumorientierten
Werten erweist sich dabei in China als besonders effektiv.
Shanghai verkörpert wie kaum eine andere Mega-City die globalisierte
Moderne. Hohe Wachstumsraten und technologischer Fortschritt lassen
Shanghai als Stadt der Zukunft erscheinen. Wer jedoch hinter die
Fassaden blickt, dem offenbart sich schnell, dass Wachstum im Kern
auch Rückschritt bedeuten kann.
Wolfgang Sterneck, Juli 2011.
www.sterneck.net
Foto-Sets :
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