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Wolfgang Sterneck
SOUNDS OF SAN FRANCISCO
- Das Erbe der Hippies
- Offene Sessions als Lebensprinzip
- Goa in San Francisco
- Auf der Straße
- Party, Kultur und Widerstand
SOUNDS OF SAN FRANCISCO
Zwischen Hippie-Kommerz, Goa-Spirits und revolutionären Party-Demos
- Eine Reise durch das San Francisco der Gegenwart ...
DAS ERBE DER HIPPIES
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurde San Francisco
zur Hauptstadt der Flower-Power-Bewegung. Zigtausende Hippies aus
der ganzen Welt kamen zusammen, um in Haight-Ashbury den ”Summer
of Love” zu feiern. Verbindend war die Abkehr von den Werten
der bürgerlichen Gesellschaft, die im Vietnam-Krieg ihr blutverschmiertes
Gesicht zeigte. Die Vision der Hippies machte dagegen die freie
Liebe zur wichtigsten Kraft, die aufkommende Rock-Musik wurde zum
wegweisenden Bezugspunkt und psychedelische Substanzen dienten zur
Veränderung des Bewusstseins. Die farbenfrohen Beschwörungen
einer besseren Welt nahmen jedoch nur kurzzeitig Gestalt an, bald
verfing sich die Hippie-Kultur in inneren Widersprüchen. Zudem
gelang es Ronald Reagan, dem damaligen Gouverneur Kaliforniens,
und dem CIA zunehmend die Bewegung über repressive Massnahmen
zu schwächen. Im Grunde wurzelte das Scheitern der Hippie-Kultur
jedoch in einem wesentlichen Teil in der verschlingenden Dynamik
eines Gesellschaftssystems, das selbst seine Antithese integriert
und zu Geld macht.
Bis heute lebt Haight-Ashbury als Stadtteil noch immer vom Mythos
der Hippie-Bewegung. Vom ursprünglichen Spirit ist kaum noch
etwas zu spüren, wie sollte es über dreißig Jahre
später auch anders sein. Ein Hippie-Shop reiht sich an den
nächsten: Eine endlose Ansammlung von T-Shirts, Postern, Tassen
und anderen Souvenirs mit Motiven der Ikonen Janis Joplin, Jimi
Hendrix und Jerry Garcia. Blumen schmücken noch immer die zentrale
Haight-Street, doch längst sind sie mit einem meist völlig
überteuerten Preisschild versehen.
Inzwischen sind jedoch nicht nur die scheinbar ewig jungen Rock-Klassiker
der späten Sechziger in den Shops zu hören. Seit einiger
Zeit nehmen die zeitgemäßen Beats des Psychedelic Trance
einen nahezu gleichberechtigten Platz ein. Die Freaks aus der Goa-Szene
haben längst das Erbe der Hippies angetreten. Viele Parallelen
sind offensichtlich, so ist beispielsweise der Bezug zur indischen
Mystik genauso verbreitet wie der Gebrauch psychoaktiver Substanzen
und auch die farbenfrohe Kleidung orientiert sich eindeutig am Outfit
der Hippies. Vor allem ist es jedoch zumeist die Sehnsucht nach
Freiheit und Ungebundenheit, nach innerer Entfaltung und Entwicklung,
die den eingeschlagenen Weg bestimmt. Charakteristisch ist für
beide Kulturen jedoch auch ein oftmals naives bis ignorantes Verhältnis
gegenüber den Möglichkeiten und den Notwendigkeiten politischen
Engagements.
OFFENE SESSIONS ALS LEBENSPRINZIP
Aus der scheinbar endlosen Kette der Tourist-Shops der Haight-Street
fällt der Bound Together Bookstore heraus. Dort reihen sich
die Klassiker der linken Bewegungen aneinander, von Marx und Bakunin
über die Vertretern der kritischen Theorie bis zu den WortführerInnen
der Antiglobalisierungsbewegung. Daneben stehen verschiedene Underground-Zeitschriften
oder auch Benefit-CDs für den aus politischen Gründen
in Philadelphia zum Tode verurteilten afroamerikanischen Journalisten
Mumia Abu-Jamal. Im Gegensatz zu vergleichbaren Projekten in Deutschland
lassen sich aber auch erotische Fotobände aus der Fetisch-Szene
oder psychedelische Erfahrungsberichte finden. ”Alle Mitarbeiter
des Buchladens verzichten auf einen Lohn, die Gewinne fließen
an linke Projekten” erzählt mir Monica und fügt
mit einem leicht zweifelnden und gleichzeitig hoffnungsvollen Lächeln
hinzu: ”Vielleicht reicht es sogar irgendwann einmal für
den Aufbau eines Zentrums.”
Im Golden Gate Park finde ich dann doch noch den Geist der Hippie-Bewegung,
der sich im Grund jedoch losgelöst von der Kultur der späten
Sechziger als eine Art ”Open Spirit” bezeichnen lässt,
welcher sich durch so viele gegenkulturellen Bewegungen zieht. An
einem kleinem Hügel hat sich eine Gruppe von TrommlerInnen
zusammengefunden, unterstützt von einem Klarinettisten und
einem Trompeter. Eine offene Session, der sich jede und jeder anschließen
kann, unabhängig von Alter, Hautfarbe und Herkunft. Und so
ist es ein ständiges kommen und gehen, meist sind es rund fünfzehn
TrommlerInnen, die improvisierend miteinander spielen, dabei gleichberechtigt
aufeinander eingehen und so den Traum einer gemeinschaftlichen Gesellschaft
auf dieser Ebene für einige Stunden zur Wirklichkeit machen.
Während ich auf der Wiese liege, ziehen einige Seifenblasen
an mir vorbei, der Geruch von Räucherstäbchen und Grass
liegt in der Luft. Ein Skateborder hat sich in die Mitte der TrommlerInnen
gelegt, um sich völlig vom Sound umhüllen zu lassen, während
einige junge, etwas klischeehaft hippieartig gekleidete Frauen ausgelassen
tanzen. Es macht den Flair von San Francisco mit aus, dass sich
auch fünfzig- und sechzigjährige ganz selbstverständlich
der Musik hingeben, ohne mit einem Kopfschütteln bedacht zu
werden. Gleich neben mir breitet eine Familie ein Picknick aus,
daneben spielen einige Freaks Frisbee, andere jonglieren oder genießen
einfach den warmen Nachmittag.
Doch auch an diesem idyllischen Sonnentag in Haight-Ashbury wird
am Straßenrand die Kehrseite des vermeintlichen Traumlandes
Amerika mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten deutlich. Da
streicht eine verwirrte ältere Frau ununterbrochen über
eine Barbie-Puppe und spricht von deren Schönheit. Gleich daneben
bitten die beiden Punx auf einem handgeschriebenen Schild mit etwas
Selbstironie um Spenden für ihre Alkohol-Studien. Nicht minder
bezeichnend ist der Alt-Hippie, der unverständliches Zeug vor
sich hin murmelt, während er eine Mülltonne nach etwas
Essbaren durchwühlt.
GOA IN SAN FRANCISCO
Im SoMa-District San Franciscos, einem ansatzweise alternativen,
im Gesamteindruck aber eher heruntergekommenen Stadtteil, befindet
sich in einem Warehouse das Consortium of Collective Consciousness
(CCC). Getragen von einer Grundhaltung, die Spiritualität und
Party miteinander verbindet, verkörpert es wie kaum ein anderer
Ort als Kultur- bzw. Wohnzentrum die Goa-Szene. ”Es begann
vor einigen Jahren als wir völlig verändert von den Trance-Partys
in indischen Goa zurückkamen. Wir versuchten die psychedelischen
Energien dieser Erlebnisse aufzugreifen und weiter zu tragen. Wir
kamen zusammen, mieteten ein altes Warehouse und organisierten die
ersten Partys. Im Mai ’95 nahm dann der legendäre DJ
Goa Gil unsere Spirits mit auf eine Reise, auf der wir uns bis zum
heutigen Tag befinden.” erzählt Santosh, einer der Gründer
des CCC.
Zur Zeit wohnen acht Leute im CCC, zumeist in schön gestalteten,
aber äußerst kleinen, fensterlosen Zimmern, die kaum
mehr beinhalten als ein Bett und einige Kisten. Treffpunkt ist die
gemeinschaftlich genutzte Küche, das Herz des Zentrums bildet
eine Halle, die als Partyraum genutzt wird. Auf dem mit Tüchern
abgehängten Dach eines kleinen DJ-Raumes innerhalb der Halle
wohnt Aaron, dessen persönlicher Besitz aus nicht viel mehr
als einem Schlafsack, einigen Kleidungsstücken und einem Laptop
besteht, auf dem er unablässig neue Stücke kreiert. ”We
are so much into music, nothing else matters” führt er
in einer selbstverständlichen Beiläufigkeit aus. Entsprechend
läuft im Grunde rund um die Uhr im ganzen Haus Psychedelic-Trance
in allen Variationen. Einige Hausbewohner sind am Mixen, in einem
anderen studioartigen Zimmer, das ebenfalls gleichzeitig als Schlafraum
genutzt wird, entsteht am Computer ein neuer Track und in der Küche
läuft eine Promo-CD.
Das ganze Zentrum ist im Innern farbenfroh gestaltet. Überall
hängen großteils selbstgemalte, großformatige Gemälde.
Neben psychedelischen und fantasyartigen Motiven sind es vor allem
spirituelle indische Motive. Da lächelt von einem Poster Krishna,
an einem altarartigen Platz befindet sich eine kitschig mit blumigen
Schmetterlingen behängte Buddha-Statur und Shiva ist neben
zig anderen hinduistischen Gottheiten allgegenwärtig. Tatsächlich
scheint sich jedoch fernab der Klischees vom spirituellen Indien
kaum jemand für die religiösen Hintergründe zu interessieren.
In einer Diskussion mit einigen BewohnerInnen des CCC geht es um
die Bedeutung organisierter Religion, um die Strukturen der Kirchen
und anderer religiöser Organisationen, die, so die die durchgängige
Überzeugung, den Zugang zur eigentlichen Persönlichkeit,
deren Energien und Potentialen verhindern. Der Veränderungsweg
den Santosh aufzeigt, beginnt bei der einzelnen Person, beim individuell
ausgeprägten ”inneren Frieden”, gefolgt vom Frieden
in der Familie und in der Gemeinschaft, um dann irgendwann bei der
Gesellschaft und anschließend beim Weltfrieden anzugelangen.
Es ist der vielbeschworene Weg der ”inneren Evolution”,
der jedoch im Hier und Jetzt oftmals gegenüber den bestehenden
umgebenden gesellschaftlichen Missständen die Augen verschließt.
Bevor wir ausführlicher diesen Punkt diskutieren können,
geht es schon wieder voller Selbstüberzeugung um die CCC-Party
auf dem legendären Burning-Man-Festival, die dort alle anderen
Events in den Schatten stellen soll. Ein charakteristischer Ablauf,
denn im Grunde drehen sich alle Gespräche unabhängig von
der anfänglichen Thematik nach kurzer Zeit im wesentlichen
um drei Themen, um Musik bzw. Partys, um Drogen und um Spirituelles,
wobei im Zentrum der Ausführungen fast immer das eigene Ich
und die eigenen Leistungen stehen.
Letztlich ist das CCC ein Paradebeispiel für das sinnbildliche
Verständnis der ”Dance-Community” als eine isolierte
Insel, wobei ignoriert wird, dass jede Insel von einem Meer umgeben
wird. Wie stark jedoch auch das CCC von den äußeren Einflüssen
geprägt wird, unterstreicht nachdrücklich die extreme
Erhöhung der Miete, die inzwischen vom CCC nicht mehr getragen
werden kann. Im Zuge der Entwicklungen um die dot.com-Industrie
drängen immer mehr Internet-Firmen in den als Künstlerviertel
bekannten Stadtteil. Zwangsläufig steigen die Mieten, die ursprünglich
ansässige Bevölkerung wird so vertrieben und der Stadtteil
im Verlauf weniger Jahre komplett umstrukturiert. So steht trotz
aller spirituellen Symbole der Auszug des CCC in absehbarer Zeit
bevor und ein erschwingliches Ersatzgebäude ist noch nicht
in Sicht.
AUF DER STRASSE
Als ich durch den Mission-District ziehe, zeigt sich schnell ein
Gesicht San Franciscos, das in keinem Reiseführer zu finden
ist. Große Teile der Stadt sind von schmucklosen Häusern,
Lagerhallen und grauen Bürobauten bestimmt. Auffallend ist
insbesondere die hohe Zahl der Homeless People, der Obdachlosen,
die ihren verbliebenen Besitz in Einkaufswagen durch die Straßen
schieben. Einige wenige leben in Zelten, die meisten in selbstgebauten
Unterkünften aus Pappkisten, Blech und Stoffresten oder sie
schlafen direkt auf dem Bürgersteig, umgeben von Autolärm
und Abgasen. Vor vielen Geschäften befinden sich Schilder mit
der Aufschrift ”No Trespassing” (”Verweilen verboten”),
die sich speziell an Obdachlose richten. Teilweise sind sogar die
Mülltonnen mit Gittern verriegelt um ein Durchwühlen zu
verhindern. Dennoch sieht man an fast jeder Straßenecke Menschen,
die den Müll der Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach
etwas Essenbaren durchwühlen. Ein Bild, das längst einen
selbstverständlichen Teil des Alltags US-amerikanischer Großstädte
bildet.
Direkt an der Market-Street, einer der zentralen Straßen San
Franciscos, verteilen ehrenamtliche Mitglieder von Food Not Bombs
an Bedürftige kostenlos vegetarische Nahrungsmittel und Getränke,
die von Großküchen und einigen Geschäften aus Restbeständen
zur Verfügung gestellt werden. Der Platz und die Uhrzeit sind
bekannt und schon bald bildet sich eine lange Schlange. Im Gegensatz
zu vielen anderen karitativen Organisationen in Deutschland stellt
Food not Bombs die Aktivitäten ausdrücklich in einen gesamtgesellschaftlichen
Zusammenhang: Zielsetzung ist nicht nur die Minderung von Elend
und Not, sondern auch das Aufzeigen der eigentlichen, systembedingten
Ursachen. So verurteilt Food not Bombs auch immer wieder scharf
die polizeiliche Willkür gegenüber Obdachlosen. Entsprechend
angespannt ist das Verhältnis gegenüber staatlichen Stellen.
In San Francisco wurden Food-not-Bombs-AktivistInnen mehrfach inhaftiert,
weil gegen das Vorgehen spezieller Anti-Homeless-Einheiten der Polizei
eintraten. In einigen anderen Städten wurde den lokalen Gruppen
das Verteilen von Nahrungsmitteln untersagt.
Viele der Homeless People leiden unter psychischen Problemen, die
nicht nur in ihrem elenden Dasein auf der Straße wurzeln.
In den späten sechziger Jahren wurden unter der Regierung des
damaligen kalifornischen Gouverneurs Roland Reagan die staatlichen
psychiatrischen Einrichtungen aufgelöst. Offiziell sollten
die Betroffenen in die Gesellschaft reintegriert werden und dabei
von sozialen Projekten in Wohnortnähe begleitet werden, die
jedoch in der Regel völlig überfordert waren. Tatsächlich
sollte die Auflösung der Psychiatrien den Staatshaushalt entlasten
und die Hippie-Bewegung durch die Konfrontation mit psychisch kranken
Menschen schwächen, die gezielt die Nähe zur vergleichsweise
toleranten Flower-Power-Kultur suchten.
Neben einer Bushaltestelle liegt ein Obdachloser auf einer Decke
direkt auf dem Bürgersteig. Er starrt vor sich hin, scheint
sich nicht um die Menschenmassen zu kümmern, die an ihm vorbei
ziehen. Seit zwölf, fünfzehn Jahren lebt er nun auf der
Straße, erzählt er mir. Seit wann genau, daran kann er
sich nicht mehr erinnern. Zuerst hat er die Arbeit, dann die Wohnung
verloren, danach gab es kein zurück mehr. Ob er noch Hoffnung
habe, frage ich ihn. Seine Antwort lautet schlicht ”Hope for
what?”.
PARTY, KULTUR UND WIDERSTAND
Im SoMa-Café treffe ich mich mit Christopher Anderson, dem
Regisseur von ”An Act of Sabotage”. Ein beeindruckender
halb-dokumentarischer Spielfilm, der auf seine ganz eigene Weise
um die Pole Musik und Gemeinschaft, Liebe und Militanz, Bewusstsein
und Widerstand kreist. Nach der Aufführung auf verschiedenen
Festivals hat der Film trotz seiner subversiven Message sogar seinen
Weg in das Spätprogramm des ZDF gefunden. Christophers Gedanken
beschäftigen sich an diesem Nachmittag mit der ”geistigen
Vergiftung der Menschen durch die Medien” und ”die berechnende
Ignoranz der herrschenden PolitikerInnen”. Vor diesem Hintergrund
bezieht er sich aber auch auf den Widerstand gegen die bestehenden
Machtstrukturen und die Gesetzmäßigkeiten mit der sich
Menschen gegen Unterdrückung und Ausbeutung wehren. Sei es
nun bei einem Einbruch eines Obdachlosen in einen Supermarkt oder
im Rahmen des Widerstands gegen die Globalisierung in Seatle.
Später sprechen wir über sein Selbstverständnis als
Filmemacher und über die Idee des Cybertribes, der überliefertes
Wissen mit den Entwicklungen der Gegenwart verknüpft. ”Mich
beeindruckt das verbindende Verständnis von Kreativität,
Schamanismus und Widerstand. Es sind Elemente die in diesem System
des Konsums gezielt verdrängt werden. Konsum von Produkten,
von Drogen und TV als Flucht aus einer Welt, in der sich die Menschen
verkaufen müssen. Es geht in unseren Filmen um direkte Aktionen.
Der Akt des Filmemachens als wirkliche Erfahrung und nicht als sorgfältig
inszenierte Lüge. Wir versuchen Veränderungen anzuregen
indem wir wichtige Themen zur Diskussion bringen, um dann zur Aktion
überzugehen und diese in unsere Filme integrieren. Selbstverständlich
bedeutet dies, dass man sich manchmal außerhalb der normalen
Parameter bewegen muss.”
Von einem ähnlichen Kultur- bzw. Kunstverständnis geht
das Projekt ’Art and Revolution’ aus, das seit 1996
mit unterschiedlichen fortschrittlichen Organisationen zusammenarbeitet.
Bekannt wurde ’Art and Revolution’ insbesondere durch
die riesigen symbolträchtigen Puppen, die von ihren Mitgliedern
auf Demonstrationen getragen werden und diesen dadurch ein besondere
visuelle Ausdruckskraft geben. ”Wir glauben, dass politische
Arbeit ohne kreative Visionen in eine Sackgasse führt, genauso
wie Kunst ohne politische oder soziale Bedeutung keine wirkliche
Perspektive eröffnet.” erläutert eine der Aktivistinnen.
”Wir sind ein Kollektiv, das in seinen Projekten kreative
kulturelle Ausdrucksformen mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit
verbindet. Wir bringen phantasievoll Musik, Poesie und Kunst auf
die Straßen, um auf die kritischen Themen unserer Zeit aufmerksam
zu machen. Wir nutzen Kunst als Werkzeug zur Unterstützung
von Graswurzelinitiativen, wie auch zur Entwicklung neuer Formen
des Widerstands und der Kommunikation.”
Die Idee der ”Reclaim the Streets”-Events entstand in
den neunziger Jahren. Ausgangspunkt war das Bestreben Politik und
Party zusammenzubringen, nicht zuletzt um auf diesem Wege festgefahrene
und kopflastige Strukturen innerhalb der linken Bewegungen aufzubrechen.
Politische Demonstrationen sollen in diesem Sinne nicht nur trockene
Manifestationen bestimmter Haltungen sein, sondern auch lustvolle
Feste eines anderen Lebensgefühls und einer anderen Kultur.
Entsprechend werden Sound-Systems und Live-Musik in die Demos integriert,
während die TeilnehmerInnen nicht länger nur Parolen skandierend
eine bestimmte Strecke ablaufen. Vielmehr tanzen sie nun in den
Straßen, die sie für sich zurückfordern. Mit einem
gewissen Augenzwinkern beziehen sich die TeilnehmerInnen dabei bis
heute auf die Anarchistin Emma Goldmann, die in den zwanziger Jahren
des letzten Jahrhunderts einmal sinngemäß verkündet
haben soll: ”Wenn ich nicht tanzen kann, dann ist es nicht
meine Revolution.”
Monica und Tomcat gehören zu den Reclaim-The-Streets-AktivistInnen
in San Francisco, die bewusst am 1. Mai eine Party-Demo veranstalten.
Bemerkenswert ist dabei die Verbindung der Walpurgisnacht-Feiern
der ursprünglichen Kultur der Hexen mit dem revolutionären
Verständnis des 1. Mai. ”Die Idee des 1. Mai geht lange
zurück. Ursprünglich war es ein erdverbundenes sexy Fest,
das der Fruchtbarkeit der Erde, unserem eigenen Leben und einer
erträgnisreichen Ernte gewidmet war. Kirche, Staat und Patriarchat
ächteten dieses Fest, aber die unbeherrschbare Natur des 1.
Mai ließ sich nicht unterdrücken. Er wurde als Kampftag
der ArbeiterInnen wiedergeboren, auch wenn die heutigen ArbeiterInnen
keine Ernte mehr für die Gemeinschaft einbringen, sondern nur
noch für die Reichen arbeiten.”
Als DJ legt Tomcat meist progressiven Techno auf, wobei er jedoch
gegenüber ”Peace, Love and Unity” als den so oft
beschworenen Werten der Techno- und Trance-Szene eine eher kritische
Position einnimmt. ”Diese Worte sind Floskeln, die jeder unterschreiben
kann. Natürlich ist jeder für Frieden, aber was heißt
das schon? Ist es Frieden, wenn Menschen in den Straßen ohne
Essen dahinvegetieren müssen und zigtausende in den Gefängnissen
sitzen? Alle Kriegsherren proklamierten den Frieden.” Monica
fügt hinzu: ”Wir gehen am 1. Mai auf die Straße,
um an die Kämpfe für einen wahren Frieden und an die Kämpfe
für die Rechte der ArbeiterInnen zu erinnern. Wir veranstalten
Partys, um die rebellische Kraft vergangener Zeiten in den heutigen
Widerstand zu übertragen, um das Feuer weiter brennen zu lassen
für die Erde, für die Menschen, für unsere Zukunft.”
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