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DIE SUBVERSIVE SCHÖNHEIT DES SCHMETTERLINGS
Kreativer Widerstand im urbanen Dschungel:
Aktionen mit dem Comando Selva 22 in den Favelas von Rio de Janeiro
DIE BLENDENDE SONNE DER COPA
Am legendären Strand der Copacobana wird gerade mit viel Aufwand
eine Bahn für ein Show-Rennen des 100-Meter-Weltrekordlers
Usain Bolt aufgebaut. Es ist ein weiteres Mosaikstück des Bildes
von Rio de Janeiro, das die Tourismus-Agenturen der Stadt in die
Welt hinaus schicken.
Das weit verbreitete Image einer Stadt, die von Elendsvierteln und
Kriminalität geprägt ist, soll zugunsten des Bildes einer
modernen Metropole mit herausragenden Events und vielen Sehenswürdigkeiten
verändert werden. Ein Image, das jedoch in seiner Einseitigkeit
ebenso verfälschend wirkt wir die Beschreibung eine Stadt,
die von Verbrechen bestimmt wird.
Ständige Bezugspunkte in dieser Welt der Postkarten-Impressionen
sind Strand-Motive, die überdimensionale Christusfigur und
der Zuckerhut. Daneben wird sich beständig, auf den Karneval
in Rio, sowie auf die Fußballweltmeisterschaft und Olympia
als internationale Top-Events der kommenden Jahre bezogen.
INNERE UND ÄUSSERE MAUERN
Moon und ich treffen uns mit MVHemp am Posto 5 der Copacabana und
verabschieden uns zugleich von dieser Mischung aus chilligen Meeresstrand
und erdrückenden Hotel-Hochhäusern, die längst den
Anblick bestimmen. Wir begeben uns zur Metro, um dort Cristiano
und Djoser zu treffen und hinaus in die Welt der Faveles zu fahren.
Auf dem Weg zur Station laufen wir an einigen Luxus-Gebäuden
vorbei, die von Meterhohen Zäunen und teilweise von Stacheldraht
umgeben sind. In den Eingangsbereichen sitzen gelangweilte Sicherheitskräfte.
Moon stellt mit einem ironischen Unterton die Frage, ob sich die
vermögende Oberschicht hier selbst in goldene Käfige eingesperrt
hat.
EINE GEMEINSAME SPRACHE OHNE WORTE
Wir sprechen kein portugiesisch, während MVHemp und seine Freunde
nur wenige Worte Englisch beherrschen. Im Vorfeld hatten wir über
Mail mit Hilfe von Übersetzungsprogrammen kommuniziert.
Doch einmal mehr zeigt sich, dass es keiner gemeinsam gesprochenen
Sprache bedarf, wenn die Grundenergien zwischen den Beteiligten
stimmen. Wir verständigen uns mit Blicken, Bewegungen und Zeichen.
Im Kern sind es unsere gemeinsamen Ideale, die hier weitgehend Worte
überflüssig machen.
COMANDO SELVA 22
Cristiano, Djoser und MVHemp gehören Comando Selva 22 (CS22)
an, einer locker organisierten Gruppe, die mit vielfältigen
Aktionen Kultur und Politik in den Favelas der Stadt verbinden.
Comando Selva steht für "Dschungel-Komando", angelehnt
an die Vorstellung von Rio als ein riesiger urbaner Dschungel. Die
22 bezieht sich daneben sinnbildlich für eine scheinbar unsinnige
Handlung.
"Viele halten uns für verrückt, weil wir als Gruppe
in die Favelas gehen, also in die Risikogebiete vor denen uns die
Polizei und die Medien nachdrücklich warnen. Wir gehen dorthin,
um die Menschen zu erreichen, die aufgegeben und verdrängt
wurden. Wir tauschen uns mit ihnen aus, unterstützen sie in
ihren Kämpfen und tragen unsere Ausdrucksformen und Ideen weiter."
DIE BEFREIUNG DER KÖPFE
Die Aktionen von Comando Selva 22 werden zum Teil dokumentiert und
über das Internet verbreitet. Inzwischen schließen sich
dem Projekt immer mehr AktivistInnen mit ihren speziellen Fähigkeiten
an, um, wie sie selbst sagen, "die Köpfe aus den Fängen
des Systems zu befreien."
Comando Selva 22 organisiert entsprechend Graffiti-Workshops, koordiniert
Treffen von alternativen KünstlerInnen und produziert politische
HipHop-Stücke, die online abrufbar sind. Das Projekt regt zudem
Kinder und Jugendliche an, sich kreativ mit den umgebenden Realitäten
auseinanderzusetzen, und gestaltet mit den BewohnerInnen verschiedener
Favelas soziokulturelle Veranstaltungen.
In einem fließenden Prozess wird dadurch bei allen Beteiligten
immer wieder das Bewusstsein gestärkt, dass es möglich
ist, die Verhältnisse gemeinschaftlich auf unterschiedlichen
Ebenen neu zu gestalten.
IN DEN RISSEN DES SYSTEMS
Einmal mehr zeigt sich am Beispiel von Comando Selva 22, dass fernab
der vorgegebenen Strukturen im Untergrund der urbanen Metropolen
vielfältige Projekte bestehen, die sich der kulturellen Gleichschaltung
widersetzen und versuchen neue Wege zu gehen. Die Rhythmen ihrer
Musik sind zum Teil unterschiedlich aufgebaut und die Texte variieren
in ihren Bildern, doch in ihren grundlegenden Botschaften gleichen
sie sich.
Beständig geht es dabei um Aktionen des Widerstandes und um
Freiräume in denen zumindest ansatzweise ein anderes Leben
möglich ist. Freiräume, die von selbstbestimmter Kreativität
und solidarischer Verantwortung geprägt sind .
ZUTRITT VERBOTEN
Als wir an einer Station in der Zona Norte der Stadt wieder aus
der Metro aussteigen, ziehen wir an einigen abgesperrten Gebieten
vorbei. Ein stählernes Tor mit Stacheldrahtumzäunung,
sowie Sicherheitspersonal sorgen dafür, dass die Neubausiedlung
"Vila Brasil" nur denen zugänglich ist, die es sich
leisten können.
In den einige Straßenzüge weiter beginnenden Favelas
der Stadtteile Benfica und Manguinhos hat sich dann das Stadtbild
komplett verändert. Keine gleichförmigen Hochhäuser
oder abgesperrte Bereiche, sondern meist zwei- oder dreigeschossige
Gebäude, die improvisiert eng aneinander gebaut sind. Jedes
auf seine besondere Weise.
Trotz aller offensichtlichen Mängel haben die meisten Gebäude
etwas einladendes. Eine gewachsene Struktur, die nicht in Architekturbüros
und auch nicht in den Abteilungen der politischen Stadtplanung entworfen
wurde, sondern aus den gegebenen Möglichkeiten und Bedürfnissen
ihrer BewohnerInnen heraus schrittweise entstanden ist.
ZWISCHEN METRO UND ABFLUSSKANAL
Gleichzeitig sind einige Problematiken schon auf den ersten Blick
sichtbar. Der einbetonierte Bach, der sich durch die Favelas zieht,
gleicht einem Abflusskanal, in den zum Teil die Abwässer aus
den Häusern direkt eingeleitet werden. Mehrfach muss ich zudem
in den engen und dunklen Gassen an Petzi denken, der auf seine spezielle
Weise darauf verwies, dass er sich in Städten nicht wohl fühlt,
in denen es mehr Häuser als Bäume gibt.
Unablässig rauscht zum Teil ohne Absperrung unmittelbar neben
den Hütten und Häusern die Metro vorbei. Und über
den Gassen bilden die zahllosen Stromleitungen an manchen Stellen
riesige, scheinbar unauflösbare Knotenpunkte mit entsprechenden
Risiken.
EINE FAUST MIT EINER SPRÜHDOSE
Von einem Übergang aus erkennen wir zwischen den Schienen einige
hüllenlose Schallplatten, die sofort die Aufmerksamkeit vom
MVHemp und Djoser erregen. Es ist offensichtlicht für sie nicht
nachvollziehbar, dass man Vinyl einfach wegwerfen kann. In ihrem
Bruchstückhaften Englisch sprechen sie von "Dead Music".
Wir ziehen weiter zu einem kleinen, verwinkelten Haus in der Favela-Siedlung
Arará, in dem Hip Hop Sanduba zu Hause ist, ein Musik- und
Streetart-Projekt aus dem Umfeld von Comando Selva 22. Die Zimmer
des Hauses sind bunt gestaltet. Ein Stencil an einer Wand zeigt
eine Faust, die eine Sprühdose umschließt.
POSTMODERNE RHYTHMEN IM REMIX
Insbesondere das Zimmer, in dem sich eine Schallplattensammlung
befindet, gleicht einem postmodernen Mix verschiedenster Bezüge.
Da hängt eine Maske der Band Kiss über einem Buddha, revolutionäre
Literatur steht neben Bildern aus Fantasy-Geschichten.
Der respektvolle Umgang mit den Schallplatten zeigt, welche Bedeutung
die Musik für diese Community hat. Gleichzeitig offenbart der
Zustand der Cover, dass sie jeweils eine lange und bewegte Geschichte
haben.
Wir essen zusammen und kommunizieren mit Hilfen von Zeichnungen,
Fotos und Covern. Gerne hätte ich an manchen Punkten nachgefragt
und die Infos vertieft, doch im Rahmen unserer eingeschränkten
Möglichkeiten haben wir eine energetische Ebene des Austauschs
gefunden.
Wie bei den meisten Häusern des Stadtteils wurde auch hier
das Dach ausgebaut und wird nun als Terrasse genutzt. Die zentrale
Wand ist mit einem Favela-Stencil überzogen. Dazwischen Stencils
eines trommelnden Kindes, Bob Marley und die Christus-Figur, sowie
das Kürzel CS22.
JESUS UND CHE
Die Dachterrasse ermöglicht einen beeindruckenden Ausblick.
Über den Häusern der Favelas erheben sich bei klarem,
blauen Himmel die grünen Berge um Rio herum. Zu sehen ist auch
die überdimensionale Christus-Figur auf dem Corcovado, die
scheinbar die ganze Stadt überragt.
Jesus-Bilder und -Figuren begegnen uns auch innerhalb des Hauses.
An einer Stelle findet sich Christus direkt neben einem Aufkleber
mit dem Ikonenhaften Bild von Che Guevara. Was auf dem ersten Blick
wie ein Widerspruch erscheinen mag, offenbart auf dem zweiten Blick
eine tiefere Verbindung.
Jesus wird hier nicht als Symbol einer reaktionären Kirche
verstanden, sondern als ein Rebell, der heute in den Favelas und
nicht im Vatikan zu Hause wäre.
Ebenso steht Che nicht für die Dogmen pseudo-kommunistischer
Parteien, sondern für einen Revolutionär, der die Bequemlichkeit
eines Minister-Sessels verworfen und stattdessen idealistisch den
Kampf um Befreiung weitergeführt hat.
STENCILS, FOTOS UND ROSEN
Nach und nach kommen immer mehr CS22-AktivistInnen in das Haus.
Wir sind inzwischen zehn Personen. Ausgestattet mit Sprühdosen,
Stencil-Schablonen, Fotos im A4-Format, Schnüren und Wäscheklammern,
sowie mit Stiften, Stickern, Rosen, Fotoapparaten, einer Filmkamera
und vielen Ideen geht es los.
Die erste Station bildet das Gemeinschaftszentrum der Favela. Es
besteht aus einem etwas größeren, kargen Raum, sowie
einem kleinen Büro mit Computer. Die "Associacao de Moradores",
die Assoziation der Einwohner, stellt den Raum lokalen Gruppen zur
Verfügung und bietet kostenlose Bildungsprogramme an.
COMUNIDADES SOLIDARIAS
In Abstimmung mit den anwesenden Mitgliedern der Associacao spannen
wir Schnüre vor das Gebäude und hängen daran Fotos,
die ich mitgebracht habe. Es sind symbolhafte Aufnahmen, die auch
ohne ein Wissen über den genauen Kontext verstanden werden
können. Dazwischen befestigen wir kurze Beschreibungen auf
Portugiesisch: "Comunidades Solidarias" ("Solidarische
Gemeinschaften"), "Resistencia" ("Widerstand")
und "Visao e Criacao" ("Vision und Gestaltung").
Ein Foto zeigt eine Seifenblasen erzeugende Frau, die vor einer
langen Kette mit Polizisten steht, die in Helmen und dunklen gepanzerten
Kampfanzügen auf ihren Einsatz warten. Eine andere Aufnahme
zeigt MusikerInnen bei einer kreativen Protestaktion in einer Straße.
Ein drittes Bild zeigt eine größere Gruppe, deren Mitglieder
sich an den Händen halten und gemeinschaftlich einen Kreis
bilden.
Die Ausstellung erregt bald auch die Aufmerksamkeit der Angehörigen
einer Polizeitruppe, die zum Teil mit Maschinengewehren bewaffnet
unweit von der Assoziation eine Straßenkreuzung kontrolliert.
Mit mürrischen Blicken kommen sie nun zum Hauseingang und schauen
sich die Fotos an. Nachdem sie jedoch von Kindern und engagierten
AnwohnerInnen umringt werden, schreiten sie nicht weiter ein, sondern
ziehen sich zurück.
BUNTE STENCILS AN GRAUEN WÄNDEN
Unsere nächste Station ist eine lang gezogene graue Abgrenzungswand
an einem Weg, der durch die Favela führt. Eine Wand, die im
Grunde nur darauf wartet endlich in bunten Farben gestaltet zu werden.
Hier bilden nun Stencils den Schwerpunkt: Der Schriftzug Comando
Selva, eine Taube, die für den friedlichen Umgang miteinander
steht und eine kopflose Figur, die einen bewusstlos funktionierenden
Menschen symbolisiert.
Viele Kinder folgen uns, um zu sehen, was geschehen wird. Nach einer
kurzen Erklärung werden ihnen die Sprühdosen und Schablonen
zur Verfügung gestellt. Voller Begeisterung beginnen die Kids
sofort die Wand neu zu gestalten.
SELBSTORGANISATION UND GEWALT
Später machen wir in einer Straße in der Favela Manguinhos
eine kurze Pause, in der es vor kurzer Zeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen Polizeikräften und Gangmitgliedern kam, wie Cassiano
mit ausschweifenden Handbewegungen beschreibt.
In den Favelas bestehen vielfältige solidarische Strukturen
der Selbstorganisation und der Kooperation. Gemeinschaftliche Projekte
in Verbindung mit einer ausgeprägten Kultur nachbarschaftlicher
Unterstützung erleichtern den Alltag bzw. machen in einigen
Vierteln das Überleben erst möglich.
Gleichzeitig leiden viele Favelas unter dem Diktat von Gangs und
mafiösen Gruppen, die Teile der dortigen Wirtschaftsstrukturen
kontrollieren und ihre Profitinteressen gewaltsam durchsetzen. Beim
Versuch ihre Einflussbereiche auszuweiten, wird dabei zum Teil brutal
gegen konkurrierende Gruppen, sowie auch gegen AnwohnerInnen vorgegangen.
Das kapitalistische Konkurrenzprinzip findet hier eine völlig
rücksichtslose, nur am eigenen Vorteil ausgerichtete Umsetzung.
BEFRIEDUNG MIT MASCHINENGEWEHREN
Ein großer Teil der rund 700 Favelas in Rio wurde von der
Stadtverwaltung und der Polizei über Jahre hinweg praktisch
aufgegeben. Inzwischen versuchen die städtischen Behörden
jedoch die Kontrolle in einigen ausgewählten Stadtteilen zurück
zu gewinnen und diese zu "befrieden".
Die Einheiten der Sondereinsatzkommandos der "Unidade de Polícia
Pacificadora" haben inzwischen rund 30 Favelas eingenommen.
Nach den Großeinsätzen, die militärisch mit zum
Teil mit mehreren tausend Polizisten, sowie Panzern und Hubschraubern
durchgeführt wurden, kam es zur Einrichtung von Polizeistationen
und teilweise zum Anstoß von sozialen Programmen für
die BewohnerInnen der Favelas.
DER DROGENKRIEG ALS VORWAND
Vorrangig wird immer wieder auf die Macht der Drogenkartelle in
den Favelas verwiesen und damit die Aktionen der Unidade de Polícia
Pacificadora als Teil des Kampfes gegen die Drogenproblematik legitimiert.
Unter diesem Gesichtspunkt sind die Maßnahmen jedoch zwangsläufig
genauso zum Scheitern verurteilt wie der seit Jahrzehnten weltweit
geführte "War in Drugs" als Ganzes.
Das berechtigte Bedürfnis vieler Menschen sich zu Berauschen
und die Wahrnehmung zeitweise zu verändern, kann durch militärische
Aktionen selbstverständlich nicht unterdrückt werden.
Und so wird auch der Handel mit Drogen nicht verschwinden, vielmehr
verlagern sich die Vertriebsstrukturen in andere Stadtteile.
Die Lösung der Drogenproblematik ist nicht in einer verschärften
Repression zu finden, sondern im Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht
mündiger Menschen und der kontrollierten Legalisierung psychoaktiver
Substanzen im Verbindung mit einer Stärkung der Informations-
und Hilfsstrukturen.
GENTRIFIZIERUNG IN RIO
Auffallend ist, dass sich die Befriedungsaktionen auf Favelas konzentrieren,
die für den Immobilienmarkt und für den Tourismus lukrativ
erschlossen werden können bzw. in der Nähe der großen
Sportstädten der Fußball-WM bzw. der olympischen Spiele
liegen.
Nach der Einnahme der Favelas kommt es zum Teil zu rasanten Umstrukturierungen
bzw. Gentrifizierungen der Stadtteile. Teile der ansässigen
Bevölkerung können die Gebühren für die zuvor
besetzten Grundstücke bzw. die ohne Genehmigung errichteten
Gebäude nicht aufbringen und müssen in andere Favelas
ausweichen. In anderen Fällen werden die AnwohnerInnen aber
auch gezielt vertrieben und deren Hütten bzw. Häuser abgerissen,
damit dort neue profitable Immobilien entstehen können.
RÄUMUNG UND VERTREIBUNG
Inmitten einer solchen Siedlung stehen wir nun. Ohne die BewohnerInnen
in die Planungen einzubeziehen und auch ohne die Bereitstellungen
von Ersatzobjekten werden hier in einer zentralen Lage die Häuser
geräumt und abgerissen. Als offizielle Begründung dient
der Verweis auf die im Verständnis der Behörden illegale
Errichtung der Gebäude.
Die Siedlung, in der nur noch einige wenige BewohnerInnen in den
weitgehend zerstörten Häusern zurück geblieben sind,
liegt direkt an den Schienen der Metro. Auf der anderen Seite der
Bahnverbindung zeigt sich die Zukunft vieler Favelas.
An attraktiven Stellen müssen die Favela-Gebäude teuren
Neubauten für die Mittel- und Oberschicht weichen. Hier direkt
an der Metro werden sie jedoch durch Wohnblocks ersetzt, deren fantasielose
einheitliche Gestaltung kaum individuelle Spielräume zulässt.
Architektur wird so als Teil eines Gesamtkonzeptes ein Mittel der
Kontrolle und der Profitmaximierung.
Die vorgebliche Befriedung der Favelas entspricht hier deutlich
sichtbar einer Vertreibung der ansässigen Bevölkerung.
Hinter den sonnigen Images der Postkarten offenbart Rio an solchen
Orten eine menschenverachtende Seite.
KUNST IN DEN RUINEN
Inmitten dieser Atmosphäre des Verfalls und der Repression
suchen wir uns einige Mauern, die vor wenigen Wochen noch die Innenwände
von Wohnzimmern bildeten und beginnen sie neu zu gestalten. Zwischen
dem Schutt, der uns umgibt, finden sich verbliebene gerahmte Bilder,
Kinderspielzeug und Geschirr.
Die Energien und Ausdrucksformen von Comando Selva 22, Moon und
mir fließen nun erneut unter dem Motto 'ReCreate Space' in
einer gemeinsamen Aktion zusammen.
MVHemp sprüht Comando-Selva-Stencils, Cassiano schreibt "Arte
nas ruinas" ("Kunst in den Ruinen") an eine Abbruchwand
und Ant klettert einige Mauern hinauf, um großformatige Graffitis
zu gestalten. Dazwischen entstehen lächelnde Gesichter auf
Steinbrocken.
Lord Black sprayt währenddessen erneut mit seinen Stencil-Schablonen
kopflose Figuren die Fassaden, aus denen zum Teil wiederum kleine
kopflose Figuren hinaus gleiten. Es ist seine künstlerische
Kritik an gleichgeschalteten Menschen, die nicht denken, sondern
nur funktionieren.
Moon zeichnet mit Rosenblättern, die sich als organisches Material
hervorragend zur Gestaltung der Wände eignen, das Wort Love
mit einem Mondstern an die Wand. Ich hänge einige Fotos von
Aktionen auf, die Kreativität und politische Aktion miteinander
verbinden. Wir beide schauen uns an, genießen die Energien
dieses Tages und küssen uns.
Cristiano zeichnet die Aktionen auf, damit sie später in Videos
verarbeit werden können. Und Juliana gestaltet in bunten Farben
einen Schmetterling an einer der letzten verbliebenen Wände.
In der Tristesse dieses verfallenden Ortes strahlt er eine ganz
besondere Energie aus.
DIE SUBVERSIVE KRAFT DES SCHMETTERLINGS
Die verbliebenen BewohnerInnen sind zugleich verwundert und interessiert.
Es entstehen Gespräche zwischen ihnen und den Comando-Selva-AktivistInnen
über die Situation in den zerstörten Gebäuden und
die unklaren Perspektiven, sowie über die kreative Neugestaltung
der Abrisswände. Als Ant in großen Buchstaben das Wort
Resistencia (Widerstand) an eine Wand schreibt, applaudieren sie.
Protest und Widerstand können viele Gesichter haben. Nachhaltiger
als die reine Verneinung ist die kreative Vision bzw. die konkrete
Gestaltung von Alternativen. Und in manchen Situationen kann schon
das farbenfrohe Bild eines Schmetterlings eine subversive Kraft
entfalten.
Wolfgang Sterneck, März 2013.
www.sterneck.net
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