DIE WELTE N HINTER DEN POSTKARTEN
GEWALT, PROFIT UND KREATIVER WIDERSTAND IN DEN FAVELAS VON RIO DE
JANEIRO
In den Broschüren der Tourismus-Agenturen Rio de Janeiros finden
sich immer wieder die gleichen Motive: Der Copacabana-Strand, die
überdimensionale Christusfigur, der Zuckerhut und das Fußball-Stadion
Maracanã. Rio gilt als eines der beliebtesten Reise-Ziele
weltweit, das durch die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft
2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016 zusätzlich noch
einmal einen immensen Imagegewinn erhalten hat.
SELBSTORGANISATION UND BANDENKRIEGE
Hinter den Postkarten-Impressionen verbirgt sich jedoch die Realität
der Favelas, der Stadtteile der Unterschicht Rios. Das Spektrum
reicht dabei von Hüttenansiedlungen in den städtischen
Randgebieten, die im Wesentlichen aus Brettern, Blechteilen und
Plastikplanen zusammengestellt sind, bis zu selbst errichteten mehrstöckigen
Häusern, die an die städtische Wasser- und Strominfrastruktur
angeschlossen sind. Gemeinsam ist ihnen fast durchgängig, das
sie ohne behördliche Genehmigungen aufgebaut wurden. Schätzungen
gehen davon aus, dass ein Viertel der rund 6,3 Millionen EinwohnerInnen
Rios in den 700 Favelas der Stadt lebt.
Innerhalb der Favelas bestehen vielfältige Strukturen einer
autonomen solidarischen Selbstorganisation. Gemeinschaftliche Projekte
in Verbindung mit einer ausgeprägten Kultur nachbarschaftlicher
Unterstützung erleichtern den Alltag bzw. machen in einigen
Vierteln das Überleben erst möglich.
Gleichzeitig leiden viele Favelas unter dem Diktat von Gangs und
mafiösen Gruppen, die Teile der dortigen Wirtschaftsstrukturen
kontrollieren und ihre Profitinteressen gewaltsam durchsetzen. "Der
Stärkere setzt sich durch" als kapitalistisches Urprinzip
findet hier seine unmittelbare Entsprechung. Viele Favelas gelten
als staatsfreie Zonen aus denen sich die Polizei völlig zurückgezogen
hat.
BEFRIEDUNG FÜR DEN PROFIT
Der Einsatz der Unidade de Polícia Pacificadora, einer Spezialeinheit
aus Angehörigen des Militärs und der Polizei, zielt seit
2011 darauf diesen Zustand in ausgewählten Favelas zu beendeten
und diese zu befrieden. Teilweise mit mehreren tausend schwer bewaffneten
Kräften, die von Panzerfahrzeugen und Hubschraubern unterstützt
wurden, rückte die UPP inzwischen in rund 30 Favelas ein. Teilweise
kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit den einzelnen Gangs, in
anderen Fällen verlief die Besetzung der Favelas friedlich.
Nach der Besetzung wurden vor Ort Polizeistationen errichtet, sowie
Programme zur Verbesserung der Bildungssituation und der Infrastruktur
angestoßen.
Die Situation der BewohnerInnen der entsprechenden Favelas verbessert
sich jedoch nur auf dem ersten Blick, denn mit der Befriedung setzt
schnell ein Prozess der Umstrukturierung bzw. der Gentrifizierung
der Stadtteile ein. Für die besetzen Flächen und für
die ohne behördliche Genehmigung errichteten Häuser müssen
nun Mieten gezahlt werden, was viele Favela-Bewohnerinnen nicht
können. In Folge werden sie vertrieben und müssen sie
in andere Favelas ziehen.
Auffällig ist die Auswahl der nach städtischen Angaben
insgesamt 40 Favelas, die bis 2014 befriedet werden sollen. Fast
alle liegen in Nähe der Sportstätten der Fußball-WM
und der Olympiade oder haben auf Grund ihrer Lage ein hohes Potential
für den Tourismus- und Immobilienmarkt. So wurden in den von
der UPP eingenommenen Favelas inzwischen zum Teil ersatzlos großflächige
Häuserkomplexe abgerissen und mit ihnen eine gewachsene soziale
Strukturen zerstört, um dort neue profitable Bauten zu errichten.
Die Befriedungs- und Sicherheitsstrategie der Stadt offenbart dabei
ihren eigentlichen, an privatwirtschaftlichen Interessen ausgerichteten
Charakter.
DER DROGENKRIEG ALS VORWAND
Vorrangig wird immer wieder auf die Macht der Drogenkartelle in
den Favelas verwiesen und damit die Aktionen der Unidade de Polícia
Pacificadora als Teil des Kampfes gegen die Drogenproblematik legitimiert.
Unter diesem Gesichtspunkt sind die Maßnahmen jedoch genauso
zum Scheitern verurteilt wie der seit Jahrzehnten weltweit geführte
"War in Drugs" als Ganzes.
Das berechtigte Bedürfnis vieler Menschen sich zu Berauschen
und die Wahrnehmung zeitweise zu verändern, kann durch militärische
Aktionen selbstverständlich nicht unterdrückt werden.
Und so wird auch der Handel mit Drogen nicht verschwinden, vielmehr
verlagern sich die Vertriebsstrukturen in andere Stadtteile. Die
Lösung der Drogenproblematik ist nicht in einer verschärften
Repression zu finden, sondern im Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht
mündiger Menschen und der kontrollierten Legalisierung psychoaktiver
Substanzen im Verbindung mit einer Stärkung der Informations-
und Hilfsstrukturen.
DIE WIRKLICHKEITEN DER TELENOVELAS
Vielschichtig und weitreichend ist der Einfluss der Telenovelas
auf gesellschaftliche Entwicklungen in Brasilien. Gleichermaßen
in den Baracken der Favelas wie auch in den Villen der Nobelviertel
erreichen die Fernsehserien insgesamt bis zu 40 Millionen Menschen
täglich in Brasilien. Über ihre unterschwellig vermittelten
Botschaften stabilisieren sie das gesellschaftliche Gefüge,
können aber auch Impulse der Veränderung ausstrahlen.
So bieten die Telenovelas meist leichte Unterhaltung, lenken mit
ihren Traumwelten von realen sozialen Problemen ab und vermitteln
materielle Werte bzw. bürgerliche Lebensentwürfe. Gleichzeitig
haben einige Serien unter anderem über Figuren, die als eigenständig
bzw. emanzipiert dargestellt wurden, das Selbstverständnis
vieler Frauen nachhaltig verändert. Auch Folgen beliebter Telenovelas,
die beispielsweise Aspekte der Gesundheitsvorsorge aufgriffen, führten
zu entsprechenden Veränderungen bei einem nennenswerten Teil
der ZuschauerInnen.
DIE GLOBALISIERTE GLEICHSCHALTUNG
Mit seinem extremen Gegensatz zwischen Armut und Reichtum ist Brasilien
charakteristisch für die Schwellenländer, die längst
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten den Status eines sogenannten
Entwicklungslandes überwunden haben und hinsichtlich ihrer
Leistung an die führenden westlichen Nationen anschließen.
Die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika
versuchen inzwischen als Zusammenschluss ein Gegengewicht zur Dominanz
der westlichen Industrienationen aufzubauen.
Im Zentrum stehen dabei die neoliberalen Maximen des ökonomischen
Wachstums, während soziale und ökologische Aspekte dagegen
eine völlig untergeordnete Rolle einnehmen. Entsprechend dient
auch die Zusammenarbeit der BRICS-Staaten vor allem dem Erhalt bzw.
der Ausweitung der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen.
DER KREATIVE WIDERSTAND
Der Protest gegen diese Entwicklungen findet mit unterschiedlichen
Schwerpunkten insbesondere in Graswurzelgruppen einen Ausdruck.
Comando Selva ist ein solches in den Favelas verwurzeltes Projekt.
Die AktivistInnen bringen als "Artivists" ihren Widerstand
mit kreativen künstlerischen Mitteln zum Ausdruck. Einige nutzen
die Musik und rappen, andere gestalten Stencils und Graffities um
ihren Botschaften weiter zu tragen.
Die Aktionen sind betont offen gestaltet, so dass sich die BewohnerInnen
der entsprechenden Favelas einbringen können. Insbesondere
Kindern und Jugendlichen werden die entsprechenden Ausdrucksformen
spielerisch vermittelt. Der Kultur des passiven Konsums wird so
praktisch die in ihrem Kern politische Vielfalt kreativer Entfaltung
gegenüber gestellt. Die Wände von Abbruchhäusern
werden dabei zu kunstvoll gestalteten Bildern, in denen sich die
Visionen einer solidarischen Welt im urbanen Dschungel Rios spiegeln.
Wolfgang Sterneck, März 2013.
www.sterneck.net
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