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Wolfgang Sterneck
DIE MUSIK DES VOLKES
- VOLKSKONZERTE UND PRODUKTIONSMUSIK -
- Die Oktoberrevolution -
- Die Kunst dem Volke -
- Bildung und Vermittlung -
- Der russische Futurismus -
- Die Agitationsmusik -
- Die Massenspiele -
- Die Volkskonzerte -
- Orchester ohne Dirigenten -
- Die Produktionsmusik -
- Der wahre Weg -
- Der Sozialistische Realismus -
Die sozialistische Oktoberrevolution in Rußland bewirkte 1917
eine völlige Umgestaltung des kulturellen Lebens. Im Musikbereich
kam es zur Entwicklung einer vielfältigen revolutionären
Musikkultur, die gleichermaßen in eintrittsfreien Volkskonzerten,
in aufklärenden Massenspielen und in der experimentellen
Produktionsmusik einen Ausdruck fand.
DIE OKTOBERREVOLUTION
Das Rußland des ausgehenden 19. Jahrhunderts war von ausgeprägten
sozialen Gegensätzen geprägt. Einer kleinen Oberschicht
stand die verarmte, völlig von den Großgrundbesitzern
abhängige Landbevölkerung gegenüber. Die politische
Macht lag in den Händen des Zaren, der das Land in einer absolutistischen
Weise beherrschte. Die verschiedenen organisatorischen Ansätze
des Widerstandes blieben lange isoliert und wurden immer wieder
unterdrückt. Erst 1905 kam es zu einem von breiten Bevölkerungskreisen
getragenen revolutionären Aufstand, den jedoch Armee-Einheiten
blutig niederschlugen. Um die Situation zu entschärfen, stimmte
der Zar der Einführung einer Volksvertretung (Duma) zu, die
allerdings ohne nennenswerten Einfluß bleibt.
1914 trat Rußland an der Seite der Allierten in den ersten
Weltkrieg ein, worauf sich die schon zuvor angespannte wirtschaftliche
Lage weiter verschärfte. Die zunehmende Unzufriedenheit in
der Bevölkerung wurde von einem Anwachsen der teilweise im
Untergrund operierenden linken Organisationen begleitet. Im Februar
1917 kam es zur Ausrufung eines Generalstreiks, dem sich auch Teile
der Armee anschlossen. Bald darauf mußte sich der Zar dem
zunehmenden Druck beugen und abtreten. In den folgenden Monaten
standen sich die aus der Duma hervorgegangene provisorische Regierung
und die von ArbeiterInnen und Armeeangehörigen gebildeten Räte
(Sowjets) gegenüber. Die provisorische Regierung führte
den Krieg fort, sprach sich für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung
aus und beabsichtigte die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie.
Der radikale Flügel des Rätekongresses forderte dagegen
die sofortige Beendigung des Krieges, die Vergesellschaftung des
Privateigentums an Produktionsmitteln und die Einführung des
Rätesystems.
Am 25. Oktober 1917 stürzten die von Lenin geführten Bolschewiki
die provisorische Regierung. Der Rätekongreß unterstützte
diese Entwicklung und propagierte den Aufbau einer sozialistischen
Gesellschaftsordnung, die sich an den Interessen der arbeitenden
Bevölkerung ausrichten sollte. In allen gesellschaftlichen
Bereichen übernahmen in Folge die entsprechenden Räte
die Macht. Bald darauf kam es zur Vergesellschaftung des Besitzes
an Land und Produktionsmittel, sowie zu einer zentralen Steuerung
der Wirtschaft. Darüberhinaus wurden Bildungs- und Aufklärungsprogramme
organisiert, die langfristig zu einer fast völligen Beseitigung
des zuvor weitverbreiteten Analphabetismus führten. Weitgehend
entmachtet wurde die christlich-orthodoxe Kirche, die zu den wesentlichen
Stützen des Zarismus gehörte. Die wichtigste außenpolitische
Maßnahme war die Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit
Deutschland. Im Juni 1918 intervenierten britische, französische,
japanische und us-amerikanische Truppen in Rußland. Sie sollten
die sogenannten Weißen, die sich aus AnhängerInnen des
Zars, bürgerlichen und gemäßigt linken Gruppierungen
zusammensetzten, in ihrem Kampf gegen die Räterepublik unterstützen
und den weltweiten Symbolcharakter des ArbeiterInnenstaates brechen.
Die Intervention scheiterte jedoch nach zweijährigen Kämpfen
am entschiedenen Widerstand der Bevölkerung und der neugegründeten
Roten Armee.
Die gesellschaftlichen Bedingungen nach der Revolution boten zahlreiche
Freiräume für die Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens,
wobei es vor allem in den neugegründeten Kommunen gelang bürgerliche
Strukturen zu überwinden. Daneben kam es in einigen pädagogischen
Einrichtungen zu einer praktischen Verbindung von Psychoanalyse
und Marxismus. Durchgehend stießen diese Ansätze jedoch
auf die Kritik verschiedener Gremien im Staatsapparat und wurden
bald wieder unterdrückt. Um ihre Macht zu festigen, gingen
die Bolschewiki bzw. die Kommunistische Partei (KPdSU) nicht nur
repressiv gegen die Gegner des neuen Staates, sondern auch gegen
BefürworterInnen der Revolution vor, die nicht völlig
mit ihrer Politik übereinstimmten. Einen Höhepunkt erreichten
die Konfrontationen 1921 in Kronstadt, wo die KP Armeeeinheiten
gegen streikende Marinegeschwader einsetzte. Diese hatten die Politik
der Partei- und der Staatsführung kritisiert und unter anderem
Rede- und Pressefreiheit für die VertreterInnen revolutionärer
Positionen gefordert. Ebenfalls zerschlagen wurde nach mehrjährigen
Kämpfen die anarchistische Machno-Bewegung, die in der Ukraine
einen eigenständigen Weg eingeschlagen hatte, um eine freie
Gesellschaft aufzubauen. 1921 wurde zudem durch das Verbot der Fraktionsbildung
innerhalb der KP auch die Möglichkeit interner Kritik unterdrückt.
Vor dem Hintergrund eines starken politischen und wirtschaftlichen
Drucks durch die westlichen Staaten leitete die KP im gleichen Jahr
die Neue Ökonomische Politik (NÖP) ein, die kapitalistische
Handelsprinzipien in Teilbereichen zuließ und nach den Bürgerkriegsjahren
zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung beitragen sollte. Dabei
kam es zur Wiedereinführung des Leistungsprinzips und zur Herausbildung
einer von der NÖP profitierenden wohlhabenden Schicht. Gleichzeitig
wurde die politische Macht zunehmend auf die Entscheidungsgremien
der KP konzentriert, während die Sowjets und die Gewerkschaften
fast völlig an Einfluß verloren. Aus den Auseinandersetzungen
zwischen Stalin und Trotzki um die Nachfolge Lenins, der 1924 starb,
ging Stalin als Sieger hervor. Seine Politik war in den folgenden
Jahren von einer Rücknahme wesentlicher Errungenschaften der
Revolution und einer Unterdrückung jeglicher Kritik bestimmt.
Äußerst autoritäre Strukturen bestimmten alle Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens und gipfelten in einem patriarchalen
Personenkult. Gerechtfertigt wurden die Maßnahmen mit der
Industrialisierung und dem Kampf gegen die innere und äußere
Bedrohung des Staates.
DIE KUNST DEM VOLKE
Der theoretischen Analyse von Karl Marx und Friedrich Engels bzw.
dem Anspruch der Bolschewiki entsprechend, unterschied sich die
Rolle der Kunst in der konkreten Praxis der ersten Jahre nach der
Revolution grundlegend von der Funktion der Kunst im Kapitalismus.
Während in der kapitalistischen Gesellschaft die meisten kulturellen
Erzeugnisse am Profit ausgerichtet sind, orientierte sich die revolutionäre
Kultur Sowjetrußlands an den Bedürfnissen des Volkes
und den Erfordernissen des sozialistischen Staates. In Abgrenzung
zur elitären, in der Regel nur einer kleinen wohlhabenden Schicht
zugänglichen Kunst zur Zeit des zaristischen Systems betonte
Lenin die Notwendigkeit einer engen Verbundenheit zwischen der Kunst
und dem Volk in der sozialistischen Gesellschaft: Die Kunst
gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den
breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden
und geliebt werden. Sie muß in ihrem Fühlen, Denken und
Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in
ihnen erwecken und entwickeln. Damit aber die Kunst zum Volk und
das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine
Bildungs- und Kulturniveau heben.(1)
Um die Annäherung der breiten werktätigen Massen
und der Kunst(2) einzuleiten, wurde im Juni 1918 das
Volkskommissariat für das Bildungswesen (Narkompros) gebildet.
Dessen Leiter, Anatoli Lunacarski, faßte 1920 die Aufgaben
des Staates und damit die Aufgaben des Narkompros in Bezug auf die
Kunst folgendermaßen zusammen: Mithin erwarte ich vom
Einfluß der Revolution auf die Kunst sehr viel, einfach gesagt:
die Errettung der Kunst aus der schlimmsten Dekadenz, aus dem puren
Formalismus; Die Revolution muß die Kunst zu deren eigentlicher
Bestimmung zurückführen, den machtvollen und mitreißenden
Ausdruck großen Denkens und Erlebens. Doch daneben hat der
Staat noch eine andere ständige Aufgabe in seinem kulturellen
Wirken: die revolutionäre Form des Denkens, Fühlens und
Handelns im ganzen Land zu verbreiten. Kann ihm hierbei die Kunst
von Nutzen sein? Die Antwort ergibt sich von selbst: Wenn die Revolution
der Kunst die Seele geben kann, so kann die Kunst zum Mund der Revolution
werden.(3)
Die Narkompros-Muso, die Musikabteilung des Volkskommissariates,
leitete nach der Verstaatlichung von Musikschulen, Verlagen und
Konzertsälen die Umgestaltung und Demokratisierung des Musikbereichs
ein. Ein Arbeitsschwerpunkt lag in der Neustrukturierung des Bildungswesens,
wobei besondere Fakultäten zur Förderung der ArbeiterInnen
eingerichtet wurden. Ein anderer Schwerpunkt lag in der Organisation
eintrittsfreier Konzerte, die mit einleitenden Referaten verbunden
wurden. Angeregt und unterstützt, aber auch beobachtet und
überwacht wurde zudem die Bildung von Musikgruppen, Chören
und Diskussionszirkeln. Dabei betonte die Narkompros-Muso neben
der Förderung und Propagierung einer neuen revolutionären
Musik auch die Bewahrung und Vermittlung klassischer Werke.
In Folge der Oktoberrevolution veränderte sich auch die Rolle
der Frau in der Gesellschaft und damit auch im Kulturbereich. Den
theoretischen Positionen der Partei und den neuen Gesetzen zufolge
waren Frauen und Männer in allen Bereichen des revolutionären
Staates gleichberechtigt. Unter anderem die Einrichtung von Volksküchen
und Kinderkrippen trug dazu bei, zumindest ansatzweise diesen Anspruch
umzusetzen und Frauen verstärkt zu ermöglichen, sich aus
den Fesseln repressiver Familienstrukturen zu befreien und sich
zunehmend am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Viele Frauen
nutzten die neuen Möglichkeiten, indem sie sich kulturellen
Projekten und Organisationen anschlossen und dort ihre Interessen
und Vorstellungen einbrachten. Sie standen allerdings fast durchgängig
Strukturen gegenüber, die von Männern bestimmt wurden
und trotz einiger positiver Veränderungen nur wenig Raum für
Frauen boten.
BILDUNG UND VERMITTLUNG
Neben dem Narkompros bestand als unabhängige Organisation der
Verband der proletarischen, kulturell-aufklärenden Organisationen
(Proletkult), der schon vor der Revolution tätig war. Grundlage
des Proletkult war die Überzeugung, daß die kulturell
aufklärende Bewegung des Proletariats einen selbstständigen
Platz neben seiner politischen und ökonomischen Bewegung einnehmen
muß, daß ihre Aufgabe in der Ausarbeitung einer proletarischen
Kultur besteht, die mit der Vernichtung der Klassenteilung der Gesellschaft
zu einer allgemein menschlichen wird und weitergehend daß
der Aufbau dieser neuen Kultur auf der gesellschaftlichen
Arbeit und der brüderlichen Zusammenarbeit basieren muß.(4)
Entsprechend verstand sich der Proletkult, dessen Selbstverständnis
vor allem auf den Theorien von Alexander Bogdanov basierte, als
die für die kulturelle Entwicklung verantwortliche Organisation
und damit als dritte gesellschaftliche Kraft neben der Kommunistischen
Partei und den Gewerkschaften. Im Vergleich zur Kulturpolitik des
Narkompros bestand eine größere Offenheit gegenüber
Experimenten und avantgardistischen Ausdrucksformen, während
gleichzeitig eine radikalere Position in Bezug auf den Umgang mit
klassischen Werken eingenommen wurde. In vielen Bereichen waren
die Aktivitäten des Proletkult jedoch mit denen des Volkskommissariats
vergleichbar. So organisierten auch die Proletkult-Gruppen Volkskonzerte
und leiteten Bildungsprogramme ein. Zudem wurden Massenspiele und
Produktionskonzerte veranstaltet, an denen teilweise mehrere tausend
Personen beteiligt waren.
Ein wesentliches Element der praktischen Arbeit des Proletkult lag
im Aufbau von kulturellen Zentren, den sogenannten Studios für
Theater, Musik, literarisches Schaffen und bildende Kunst. In diesen
konnten sich jeweils Gruppen von zwanzig bis dreißig Personen
unter der Anleitung von Fachleuten künstlerische Fähigkeiten
aneignen und sich entsprechend entfalten. Der Proletkult-Aktivist
Platon Kerzencev schrieb dazu: Die Studios sind am besten
mit Laboratorien zu vergleichen. In ihnen werden unter teilweise
künstlichen Bedingungen Versuche angestellt, um zu neuen kulturellen
Errungenschaften zu gelangen. Erst nachdem die kleinen Gruppen der
Lehrenden und Lernenden in langwieriger stiller Arbeit zu greifbaren
Resultaten gelangt sind, werden diese in die dröhnenden Fabriken
getragen und so der Masse der Arbeiter zum allgemeinen Gebrauch
zugänglich gemacht.(5)
Auch wenn mit der Entwicklung einer revolutionären proletarischen
Kultur die Zielsetzung des Proletkult klar umrissen war, so gab
es innerhalb der Organisation unterschiedliche Vorstellungen, wie
diese Kultur konkret auszusehen habe. Der gemäßigte Flügel
des Proletkult, der sich im Zusammenhang mit der Festschreibung
von Positionen in den Resolutionen der Organisation meist durchsetzen
konnte, propagierte die Aufnahme fortschrittlicher Aspekte des sogenannten
Kulturerbes vergangener Epochen. Die VertreterInnen einer radikaleren
Position forderten als Voraussetzung für den Aufbau einer neuen
Kultur die völlige Überwindung traditioneller Kunstformen
und die Zerstörung alter Kulturgüter, die fast durchgängig
als ein Ausdruck der Herrschaftsstrukturen ihrer Zeit und damit
als reaktionär beschrieben wurden.
DER RUSSISCHE FUTURISMUS
Die einflußreichste Kunstströmung außerhalb des
Proletkults und dem Narkompros war in den ersten Jahren nach der
Revolution der Futurismus. Im Gegensatz zu den reaktionären
Vertretern des italienischen Futurismus propagierten die russischen
FuturistInnen die Entwicklung einer neuen freiheitlichen Kunst des
Volkes. Durchgehend begrüßten die FuturistInnen 1917
die revolutionäre Machtübernahme der kommunistischen Bolschewiki.
Charakteristisch war die folgende Aussage Wladimir Majakowskis,
dessen Gedichte und Theaterstücke wegweisend für die Entwicklung
einer revolutionären Kultur waren: Anerkennen oder nicht
anerkennen? Diese Frage existierte für mich (und für andere
Moskauer Futuristen) gar nicht. Das war meine Revolution.(6)
Zu den Aktivitäten der FuturistInnen in den Monaten nach der
Revolution gehörte die Gestaltung der zentralen 1.-Mai-Feier
1918 auf dem Roten Platz in Moskau, der mit großformatigen
Transparenten geschmückt wurde, auf denen sich futuristische
Graphiken und revolutionäre Parolen befanden. Darüber
hinaus beteiligten sich die FuturistInnen an den Kulturbrigaden,
sowie an den Fahrten der Agit-Züge und -Schiffe, die dazu beitragen
sollten, die Ziele der Revolution auch in abgelegenen Landesteilen
vorzustellen. Mehrere FuturistInnen engagierten sich zudem in den
staatlichen Kulturgremien und übernahmen dort leitende Positionen.
In einem programmatischen Manifest, das in der Futuristischen Zeitung
veröffentlicht wurde, hieß es entsprechend: Von
heute an, zugleich mit der Vernichtung des Zarentums, wird abgeschafft
das Dahinvegetieren der Künste in Schlössern, in Galerien,
Salons, Büchereien, Schauspielhäusern. Maler und Schriftsteller
werden verpflichtet, sofort die Farbtöpfe zu ergreifen und
mit den Pinseln ihrer Meisterschaft alle Flanken, Stirnwände
und Brustbreiten der Städte, der Bahnhöfe und der ewig
ausschwärmenden Eisenbahnwagen zu bemalen und auszuschmücken.
Möge von nun an der Staatsbürger allerorten Musik der
vortrefflichen Tondichter hören: Melodien, Getöse, Geräusche.
Mögen die Straßen für jedermann zum Festtag der
Kunst werden. - Alle Kunst dem ganzen Volk! (...)(7)
Schon bald nach dem revolutionären Umsturz kritisierten jedoch
verschiedene futuristische Gruppierungen die mangelnde Umsetzung
der ursprünglichen Zielsetzungen durch die Staatsorgane. So
beschrieb in einer Erklärung die Gruppe der Kommunisten-Futuristen
die Notwendigkeit eines radikalen Vorgehens gegen bürgerliche
Tendenzen im Staatsapparat und den kommunistischen Organisationen,
um die Revolution weiterzuführen und damit einer Stagnation
bzw. einer Rückentwicklung entgegenzuwirken. Alle Formen
des Alltags, der Moral, Philosophie und Kunst müssen auf den
Prinzipien des Kommunismus gegründet werden. Anders ist die
weitere Entwicklung der kommunistischen Revolution unmöglich.
Die Stellen der Sowjetmacht für Volksaufklärung zeigen
in ihrer Tätigkeit ein gänzliches Nichtverstehen der ihnen
auferlegten revolutionären Aufgabe. Man muß in allen
kulturellen Bereichen, auch in der Kunst, alle demokratischen Illusionen,
die die bourgeoisen Überbleibsel und Vorurteile üppig
überdecken, entschieden verwerfen.(8)
Um 1920 löste sich in einem fließenden Prozeß der
Futurismus als Bewegung weitgehend auf. Die meisten FuturistInnen,
die sich später mit anderen avantgardistischen KünstlerInnen
in der Linken Front der Künste (LEF) zusammenschlossen, hatten
sich inzwischen neuen Ansätzen geöffnet und die futuristischen
Ausdrucksformen weiterentwickelt. So konzentrierte sich beispielsweise
Majakowski neben seinen schriftstellerischen Tätigkeiten auf
den Entwurf von Werbetexten für Produkte, die in den staatlichen
Betrieben hergestellt wurden, und auf die Gestaltung von vermittelnden
Bildergeschichten, welche die Entwicklung der Revolution aufzeigten.
Kasimir Malewitsch widmete sich dagegen der Weiterentwicklung des
von ihm begründeten Suprematismus und arbeitete dabei mit abstrakten
und gegenstandslosen Formen.
DIE AGITATIONSMUSIK
Zu den wesentlichen musikalischen Ausdrucksformen der Oktoberrevolution
gehörte das revolutionäre Lied. Unablässig entstanden
neue Stücke, die als Mittel der Aufklärung und der Agitation
genutzt wurden. Merkmale waren ein verhältnismäßig
einfacher Aufbau, eingängige Melodien und leicht verständliche
inhaltliche Aussagen. Daneben waren die klassischen Revolutionslieder
wie insbesondere die Internationale und die Marseillaise
weit verbreitet. Beispielhaft für die neue revolutionäre
Musik ist der Text des Liedes Rote Armee, das während
des Bürgerkriegs komponiert wurde und sich inhaltlich auf den
Kampf der neu gebildeten Roten Armee gegen die konterrevolutionären
Truppen, die sogenannten Weißen, bezog. Weißes
Gesindel und adlige Brut bauen am zaristischen Throne gar gut. Doch
von Sibirien zum Britischen Meer ist die Rote Armee das stärkere
Heer. Rote Soldaten, zum Sturme voran! Tönt das Signal, folgen
wir Mann für Mann. Denn von Sibirien bis zum Britischen Meer
ist die Rote Armee das stärkere Heer. Schüret das Feuer,
das Welten verzehrt, Kirchen und Kerker auf ewig zerstört.
Denn von Sibirien bis zum Britischen Meer ist die Rote Armee das
stärkere Heer. Es trägt die Waffen in Eisenfäusten.
Die rote Wehr voran zum Sieg. Unaufhaltsam vereinen sich Proletenreihen
zum letzten Krieg.
Im Umfeld des Proletkult bildeten sich Chöre, die unter anderem
in Arbeiterzentren und bei großen Versammlungen auftraten.
Die folgende Darstellung beschreibt in einer für die Zeit des
revolutionären Umbruchs inhaltlich und stilistisch charakteristischen
Weise die Enthüllung eines Denkmals: Die Kolonnen schreiten
zum Turm, wo sich die Gedenktafel befindet. Gleichzeitig kommen
kolossale Chöre und Orchester des Proletkult dorthin und stellen
sich auf. Diagonal über den Platz bewegt sich unter den Klängen
der Internationale eine kompakte Kolonne von Teilnehmern
des Sowjetkongresses. Harmonisch klingen die Stimmen von Chor und
Orchester des Proletkult, man neigt sich vor der Fahne, ein Meer
entblößter Köpfe. Wladimir Iljitsch Lenin, getragen
von den Händen der ihn Umgebenden, nähert sich der Tafel,
durchschneidet mit einer Schere die Schnur, die Hülle fällt
und vor den Augen der Anwesenden zeigt sich die Tafel, auf der sich
die Aufschrift Den im Kampf für Frieden und Völkerfreundschaft
Gefallenen befindet. (...)(9)
Eine eigenständige Verbindung agitatorischer Lyrik und Musik
bildeten die von Wladimir Majakowski entwickelten Marschgedichte,
die vor allem von DemonstratInnen und marschierenden Soldaten in
einem trommelschlagartigen Rhythmus gesprochen wurden. Weit verbreitet
war das von Majakowski geschriebene Gedicht Unser Marsch:
Dort hinter finsterschwerem Gebirg liegt das Land der Sonne
brach. Quer durch Not über bittere Meere, stampft eueren Schritt
millionenfach! Links! Links! Links! Adleraug sollte verfehlen?!
Altes sollte uns blenden?! Kräftig der Welt an die Kehle, proletarische
Hände! Wie ihr kühn ins Gefecht saust! Himmel, der Flaggen
du schwingst! He, wer schreitet dort rechts aus? Links! Links! Links!
(...)(10)
Äußerst gegensätzlich wurde die Bedeutung der Oper
in der neuen Gesellschaft eingeschätzt. Die VertreterInnen
einer von völlig neuen Grundsätzen ausgehenden revolutionären
Kunst forderten die völlige Abschaffung der Oper als eine formal
und inhaltlich reaktionäre Musikgattung. Entsprechend wurden
Aufführungen verschiedener klassischer Kompositionen in scharfer
Form als Ausdruck religiöser und monarchistischer Einstellungen
kritisiert. Zwangsläufig kam es zu Auseinandersetzungen mit
traditionell ausgerichteten MusikerInnen, RegisseurInnen und FunktionärInnen,
die sich vorrangig am sogenannten Kulturerbe orientierten.
Widersprüchlich waren die Versuche populäre Opern mit
neuen Inhalten zu versehen. So wurden beispielsweise die Opern Tosca
und Leben für den Zaren zu Im Kampf für
die Kommune und Hammer und Sichel umgetextet.
Die musikalische Struktur der Opern, die keineswegs einen neutralen
Charakter hat, sondern vielmehr wie auch der Text bestimmte gesellschaftliche
Zustände und ideologische Einstellungen ausdrückt, blieb
jedoch bestehen. Auch die Oper Für das rote Petrograd
der beiden Komponisten Arseni Gladkowskij und Jemelijan Prussak,
die als die erste revolutionäre Oper der Sowjetunion gilt,
prägte der Widerspruch zwischen den revolutionären Inhalten
und der musikalischen Form. In der Oper wurden verschiedene Ereignisse
aus dem Bürgerkrieg dargestellt, so insbesondere der gescheiterte
Versuch der Weißen Armee Petrograd einzunehmen. Offensichtlich
war jedoch der Gegensatz zwischen der inhaltlichen Aussage und dem
musikalischen Aufbau, der sich in weiten Teilen an Komponisten wie
Peter Tschaikowski und Sergei Rachmaninow orientierte, die rückschrittliche
politische und künstlerische Positionen vertraten.
DIE MASSENSPIELE
Ein gleichermaßen inhaltlich und formal zeitgemäßer
Weg wurde dagegen mit den Massenspielen eingeschlagen, die Arbeitsgruppen
des Proletkult in den Jahren 1919 und 1920 in Moskau und Petrograd,
aber auch in einigen kleineren Städten und Dörfern organisierten.
In dem Grundkonzept wurden Ansätze verarbeitet, die sich bis
zu den Schauspielen der Französischen Revolution zurückverfolgen
lassen. Die vorrangige Zielsetzung lag in der Darstellung revolutionärer
Ereignisse und in der Vermittlung entsprechender Inhalte unter der
kreativen Einbeziehung möglichst vieler Menschen. Im Mittelpunkt
der Massenspiele, die zumeist im Freien auf riesigen Bühnen
und großen Plätzen durchgeführt wurden, standen
theatralische Darstellungen. Teilweise waren mehrere tausend Personen
als SchauspielerInnen an den Aufführungen beteiligt. Im Rahmen
einiger Szenen wurde auch das Publikum in den Ablauf direkt einbezogen,
welches dabei jedoch keine schauspielerische Rolle übernahm,
sondern unter anderem durch Sprechchöre die eigenen Positionen
und Interessen unverfremdet einbrachte. Über diese Beteiligung
in Verbindung mit den inhaltlichen Aussagen gelang es, die Grenzen
zwischen theatralischer Darstellung und revolutionärer Wirklichkeit
in Teilbereichen aufzulösen.
Im Rahmen der Darbietungen nahm die Musik eine prägende Rolle
ein, wobei verschiedene musikalische Ausdrucksformen in den Ablauf
integriert wurden. Mehrfach stimmten Chöre traditionelle ArbeiterInnenlieder
und neu entstandene Agitationsstücke an, die dann zumeist auch
von dem anwesenden Publikum aufgegriffen wurden. Zum Einsatz kamen
zudem Maschinen und Fabrikpfeifen als klangerzeugende Instrumente
aus dem Produktionsbereich. Teilweise wurden außerdem avantgardistische
Stücke junger sowjetischer KomponistInnen, aber auch klassische
Orchesterstücke aufgeführt, die aus der Sicht der OrganisatorInnen
den inhaltlichen Aussagen der Massenspiele entsprachen. Die Aufführungen
waren von einer kontrastreichen Symbolik bestimmt, die dem Publikum
einfache Identifikationsmöglichkeiten bot. Grundlegendes Motiv
fast aller Massenspiele war der historische Kampf revolutionärer
Bewegungen gegen die VertreterInnen unterdrückender Systeme.
Das anläßlich des zweiten Kongresses der Kommunistischen
Internationale im Juli 1920 in Petrograd unter der Regie von Maria
Andreewa aufgeführte Massenspiel Vorwärts zur Weltkommune
beschrieb wichtige Stationen der historischen Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung.
In den einzelnen Szenen wurde der Inhalt des Kommunistischen Manifests,
die Pariser Kommune, die Geschichte der ersten und zweiten Internationale,
der Weltkrieg, die Oktoberrevolution und die Verteidigung der sozialistischen
Republik dargestellt. Zu den populärsten Massenspielen gehörte
Das Mysterium der befreiten Arbeit, welches unter der
Leitung von Platon Kerzencev am 1. Mai 1920, dem Tag der Arbeit,
aufgeführt wurde. An ihm wirkten etwa 4000 SchauspielerInnen
mit, darunter großteils Angehörige der Roten Armee. Inhaltlich
stellte die Aufführung den Gegensatz zwischen dem luxuriösen
Leben der herrschenden Klasse im Kapitalismus und den elenden Lebensbedingungen
des ausgebeuteten Volkes dar, der nach gescheiterten Aufständen
durch die siegreiche Revolution unter dem Zeichen des roten Sterns
überwunden wurde. Symbolhaft stieg am Ende der Inszenierung
im Osten eine rote Sonne auf. Musikalisch charakterisierte in diesem
Stück der Trauermarsch von Frédérik
Chopin die Situation der Unterdrückten, während die ausschweifenden
Vergnügungen der Herrschenden unter anderem durch die Musik
des französischen Show-Tanzes Can Can untermalt
wurden. Die Darstellung des Arbeitsalltages war mit Produktionsmusik,
die Aufstände mit ArbeiterInnenliedern verbunden. Nach dem
theatralischen Sieg der Revolution stimmte das Bühnenensemble
mit der Internationale die Hymne der ArbeiterInnenbewegung
an, worauf das Publikum in das Lied einstimmte und begeistert auf
die Bühne stürmte.
DIE VOLKSKONZERTE
Während des Bürgerkriegs und den darauf folgenden Jahre
organisierten die Narkompros und der Proletkult sogenannte Volkskonzerte,
die zu einem symbolhaften Ausdruck der Ziele des neuen Systems wurden.
In ihnen spiegelten sich die Kulturpolitik der ersten Jahre und
der damit verbundenen revolutionären Euphorie. Zumeist fanden
sie eintrittsfrei in Fabriken, Kasernen und auf Dorfplätzen
statt und traten dadurch an die Stelle der elitären Konzerte
zur Zeit der zaristischen Herrschaft, die nur der Aristokratie und
wohlhabenden Teilen des Bürgertums zugänglich waren. Zum
Ablauf der Volkskonzerte schrieb Boris Krasin, der dem Proletkult
angehörte: Die Konzerte sollen von Lesungen und Einführungsworten,
aber auch von Gesprächen, an denen das gesamte Auditorium teilnimmt,
begleitet sein. Bei den Lesungen muß unbedingt der Zusammenhang
zwischen dem Musikstück und der ihm entsprechenden Epoche mit
ihren sozial-ökonomischen und ethischen Faktoren berücksichtigt
werden. Das Ziel der einführenden Worte soll sein, den Zuhörer
auf das Stück vorzubereiten. Man soll ihm helfen sich zu konzentrieren,
keinesfalls ihn jedoch festlegen, wie er das Werk aufzunehmen hat.
Nach den Konzerten (nicht unbedingt am gleichen Tag) können
kameradschaftliche Gespräche, in denen Kritik am Gehörten
angebracht werden kann, abgehalten werden. (...)(11)
Trotz der revolutionären Absichten kamen allerdings auch Merkmale
des alten Musikverständnisses in den Volkskonzerten zum Ausdruck.
So behinderten einzelne OrganisatorInnen die Überwindung des
mystifizierten Verhältnisses zu Konzerten, indem sie den feierlichen
Charakter der Konzerte überbetonten und von den ZuhörerInnen
strengste Ruhe und Disziplin verlangten. Zudem orientierte sich
die Auswahl der Stücke vielfach noch immer an bürgerlichen
Maßstäben. Die MusikerInnen, die im Rahmen der Volkskonzerte
auftraten, wurden von den staatlichen Kulturorganisationen und dem
Proletkult entlohnt. Einige MusikerInnen schlossen sich zu Kulturbrigaden
zusammen und reisten von Dorf zu Dorf, um auch die Bevölkerung
entlegener Gebiete zu erreichen. Zumeist wurden die Veranstaltungen
begeistert angenommen und mußten wegen des großen Zuspruchs
mehrfach wiederholt werden. Zwangsläufig prägte jedoch
die durch dem aufgezwungenen Bürgerkrieg wirtschaftlich angespannte
Lage auch den kulturellen Bereich. Charakteristisch für die
Bedingungen, unter denen viele KünstlerInnen arbeiten mußten,
aber auch für deren idealistischen Einsatz, ist die folgende
Darstellung des Musikers Alexander Gretschaninow: In den ersten
Jahren nach der bolschewistischen Revolution fanden in verschiedenen
Distrikten Moskaus Konzert-Vorträge für Arbeiterkinder
statt. Während der Pause gab man uns Heringe und (scheußliches)
Schwarzbrot, um uns bei Kräften zu halten. Anstelle eines Honorars
erhielten wir Mehl, Getreide und manchmal, als besondere Prämie,
ein wenig Zucker und Kakao. Meine Gesundheit war durch Unterernährung
und Kälte so sehr untergraben, daß ich mich kaum auf
den Füßen halten konnte.(12)
ORCHESTER OHNE DIRIGENTEN
Die Prinzipien der Gleichheit und der Kollektivität gehörten
zu den ursprünglichen Zielsetzungen der Oktoberrevolution.
Die Mitglieder des 1922 gegründeten Orchesters Persimfans und
der von ihm beeinflußten Projekte betrachteten diese Ideale
als Grundlage ihrer Arbeit und leiteten daraus die Ablehnung der
Position des Dirigenten ab. Generell verglichen sie die Rolle der
Dirigenten mit der absolutistischer Herrscher, die majestätisch
über ihre Untergebenen bestimmen und sich selbstherrlich mit
deren Arbeit schmücken. Das Persimfans setzte mit dem von ihnen
praktizierten Modell einer hierarchiefrei arbeitenden Gemeinschaft
konkret um, wozu die Staatsführung schon bald nach der Revolution
nicht mehr bereit war. Auf der Grundlage der bürgerkriegsbedingten
gesellschaftlichen Entwicklungen und der anerzogenen patriarchalen
Ausrichtung großer Teile der Bevölkerung war es zwar
notwendig Gremien zu schaffen, die effektiv Entscheidungen treffen
und umsetzen konnten. Die dadurch entstandenen hierarchischen und
letztlich undemokratischen Strukturen wurden jedoch bald als solche
nicht mehr hinterfragt bzw. als zeitweise Erscheinung begriffen,
sondern vielmehr bestärkt und ausgeweitet. Der Gleichheitsgrundsatz
und darüber hinaus das Bestreben, das Ideal eines selbstbestimmten
Lebens konkret umzusetzen, wurde dadurch entscheidend untergraben.
Innerhalb des Orchesters hatten alle MusikerInnen die gleichen Rechte,
was sich unter anderem auf den Einfluß auf die Auswahl der
Stücke und die Bezahlung bezog. Auch die konkrete Interpretation
der Stücke wurde nach ausführlichen Diskussionen, die
allerdings oftmals sehr zäh und unergiebig verliefen, gemeinsam
festgelegt. Während der Konzerte saßen die MusikerInnen
in einem großen Kreis, um sich gegenseitig sehen zu können
und dadurch auch auf dieser Ebene einen hierarchischer Aufbau zu
vermeiden. Die Abstimmung erfolgte über kleine Zeichen und
Blickkontakte. Um einen Eindruck von der Darbietung der Stücke
zu erhalten, setzte sich während der Proben ein Orchestermitglied
auf einen Publikumsplatz und gab später seine Einschätzung
an die anderen MusikerInnen weiter. Das Persimfans spielte vorwiegend
in Fabriken, ArbeiterInnenlokalen und Armeekasernen, um dort gleichermaßen
klassische, wie auch moderne Stücke aufzuführen. In Anlehnung
an die Volkskonzerte entwickelte Lew Zeitlin, der zu den Gründungsmitgliedern
des Orchesters gehörte, das Konzept der monographischen Konzerte,
in deren Rahmen mehrere Stücke eines Komponisten oder einer
Komponistin vorgestellt und aufgeführt wurden.
DIE PRODUKTIONSMUSIK
Der radikale experimentelle Flügel der revolutionären
Musikbewegung versuchte sich nicht nur inhaltlich, sondern auch
formal von der alten Musik zu lösen, um eine zeitgemäße
proletarische Musik zu schaffen. Entsprechende theoretische Veröffentlichungen,
welche die Basis für eine neue Produktionsmusik bildeten, forderten
den konkreten Bezug auf die neue Geschwindigkeit und die neuen
Klänge im revolutionären Leben des Proletariats.
Neue Instrumente sollten erarbeitet werden, um die Töne
der Gegenwart wiederzugeben, den Rhythmus des Eisens
und Granits wiederzugeben und die vermeintlich allgegenwärtigen
Geräusche, welche die Etablierung des Kommunismus auf
der Erde ankündigen.(13)
In den ersten Jahren nach der Revolution wurde im Rahmen von Produktionskonzerten,
an denen in einigen Fällen mehrere tausend Menschen aktiv teilnahmen,
versucht, diese Prinzipien umzusetzen. Die teilweise unter dem Titel
Symphonie der Sirenen veranstalteten Konzerte waren
großflächig angelegt und bezogen in Petrograd und Moskau
ganze Stadtteile, sowie in Baku die gesamte Stadt mit in den Ablauf
ein. In der Regel wurden völlig neu komponierte Stücke
unter Einbeziehung der Internationale aufgeführt.
FabrikarbeiterInnen bedienten dabei industrielle Maschinen um rhythmische
Klänge zu erzeugen, Armee-Einheiten beteiligten sich an festgelegten
Stellen mit Gewehrsalven und Teile der ansässigen Bevölkerung
trugen revolutionäre Texte vor oder sangen ArbeiterInnenlieder.
Fast durchgehend waren während der Konzerte die Geräusche
von Lokomotiven und Flugzeugen zu vernehmen. Phasenweise wurden
zudem Schiffsirenen und Automotoren als Tonquellen eingesetzt. Den
Ablauf der Konzerte koordinierten an zentralen Orten mehrere Personen
durch die Verwendung von Signalflaggen.
Arseni Awraamow, der für die Durchführung mehrerer Produktionskonzerte
verantwortlich war, beschrieb 1923 ausführlich das Konzept
der Aufführungen, wobei er unter anderem auf die Funktion von
Sirenen und Motoren als Instrumente einging: Die Schiff- und
Fabriksirenen bilden eine spezifische Gruppe der Instrumente. Unabhängig
voneinander setzen sie in besonderen Abschnitten ein, entweder jede
für sich oder gemeinsam nach einem Signal. Baß-Hupen
und Maschinengewehrsalven sind die besten Mittel um Signale zu geben.
Mit guten Aufführenden ist es möglich, den Sirenen harmonische
und melodische Anweisungen zu geben, auch wenn eine differenzierte
Musik noch eine Sache der Zukunft ist... Wegen ihrer Geräuscheffekte
ist es zweckmäßig Automobil-Transporte in der Nähe
der Aufführung durchzuführen, denn Motorengeräusche
von Lastwagen oder auch von niedrig fliegenden Wasserflugzeugen
kreieren Effekte überwältigender Impressionen...(14)
Die Produktionskonzerte waren allerdings insbesondere auf Grund
ihrer nur schwer überschaubaren Größe und ihres
völlig neuartigen Charakters von praktischen Schwierigkeiten
begleitet. Zudem waren die Reaktionen der ArbeiterInnen sehr gegensätzlich,
begeisterte Zustimmung stand neben Unverständnis und Ablehnung.
Durch die Konzerte gelang es jedoch zumindest ansatzweise die vorherrschende
Trennung der Bereiche Kunst, Arbeit und Leben aufzuheben und damit
den Musik- und Kunstbegriff neu zu definieren. Bis heute nahezu
einzigartig ist die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung
und die Ausweitung der Konzerte auf ganze Städte.
Verschiedene KomponistInnen versuchten auch im Rahmen traditioneller
orchestraler Ausdrucksformen die Geräusche der Arbeitswelt
wiederzugeben. Die größte Beachtung fand die Komposition
Die Fabrik von Alexander Mossolow, die in den zwanziger
Jahren als Ausdruck der sowjetischen Revolutionskultur mehrfach
in westlichen Staaten aufgeführt wurde. Auch im Theaterbereich
experimentierten einige Regisseure mit Elementen der neuen Produktionsmusik.
So begleitete im Mastfor-Theater in Moskau ein Geräuschorchester,
zu dessen Instrumenten Holzstöcke, Papierhörner, Glasscherben,
Metallstangen, Pfeifen, Tragetaschen und Eimer gehörten, den
von Nikolai Foregger entwickelten Maschinentanz. Zur gleichen Zeit
setzte der wegweisende Regisseur Wsewolod Meyerhold in einigen seiner
Aufführungen Maschinen anstatt herkömmlicher Orchesterinstrumente
ein, um ihnen auch auf der musikalischen Ebene einen zeitgemäßen
Ausdruck zu geben.
DER WAHRE WEG
Ein beträchtlicher Teil der kulturellen Aktivitäten in
den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution wurde vom Proletkult
organisiert. Er leistete einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung
einer revolutionären proletarischen Kultur, zur Volksbildung
und damit zur Veränderung des Bewußtseins der Menschen,
sowie letztlich auch zur Festigung des sozialistischen Staates.
Die Organisation war jedoch schon bald einem starken Druck aus der
Kommunistischen Partei ausgesetzt, der 1920 zur Verabschiedung einer
Resolution führte, mit der der Proletkult seine organisatorische
Unabhängigkeit aufgab und sich völlig dem Narkompros unterordnete.
In Folge stellte der Proletkult seine Aktivitäten weitgehend
ein und löste sich damit praktisch selbst auf.
Die Gründe für die Einschränkungen und die spätere
Auflösung des Proletkult waren vielschichtig. Zum einen stand
der zunehmende kulturelle und politische Einfluß des Proletkult
bei gleichzeitiger Betonung seiner Unabhängigkeit im offenen
Gegensatz zum absoluten Anspruch der KP und der an ihr ausgerichteten
Staatsorgane, die alleinigen Vertreter des Proletariats zu sein.
Lenin warf dem Proletkult zudem vor, die Bildungssituation großer
Teile der Bevölkerung nicht aussreichend zu berücksichtigen
und die Veränderungen im Kunstbereich gegenüber anderen
revolutionären Notwendigkeiten wie insbesondere der Alphabetisierung
überzubewerten. Scharf kritisiert wurden darüber hinaus
die Positionen des linken Flügels innerhalb der Organisation
gegenüber den kulturellen Traditionen. Während Lenin,
das Narkompros und auch die Mehrheit des Proletkults zur Bewahrung
und zur Aneignung der fortschrittlichen Elemente vergangener Kulturepochen
aufriefen, forderten die Radikalen kompromißlos die völlige
Überwindung und Zerstörung aller Überreste der alten
Gesellschaft als notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer
freien Kultur. Einen weiteren wesentlichen Aspekt, der zur Auflösung
des Proletkult führte, bildete die ablehnende Einstellung vieler
Parteifunktionäre gegenüber avantgardistischen Strömungen
und insbesondere gegenüber dem Futurismus, der oftmals fälschlicher
Weise mit dem radikalen Flügel des Proletkult gleichgesetzt
wurde. Meist war diese Haltung weniger von objektiven Kriterien
als vielmehr von einem den bürgerlichen Kulturvorstellungen
verhafteten Geschmack geprägt.
Die Einstellung der Aktivitäten des Proletkult bedeutete die
Aufgabe der meisten Projekte der Organisation, die nur vereinzelt
vom Narkompros weitergeführt wurden. Zudem verschärfte
sich die kulturelle Situation durch die Neue Ökonomische Politik,
die auf der teilweisen Wiedereinführung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien
basierte. In Folge nahm die Zahl der rein profitorientiert arbeitenden
KünstlerInnen wieder zu. Gleichzeitig wurden vor allem aus
finanziellen Gründen die von den staatlichen Gremien organisierten
Kultur- und Bildungsangebote stark eingeschränkt.
Nach der Auflösung des Proletkult, die 1923 endgültig
beschlossen wurde, formierten sich die verschiedenen Flügel
des Proletkult in mehreren neugegründeten Organisationen. Gemeinsam
war ihnen das Bestreben, auf der Basis eines eindeutigen Bekenntnises
zur Oktoberrevolution, die bereits bestehenden Ansätze einer
proletarischen Kultur weiterzuentwickeln. Deutlich unterschieden
sie sich aber in ihren Einschätzungen, inwieweit die bestehenden
Ansätze der angestrebten Volkskultur tatsächlich entsprachen
und welcher Weg langfristig einzuschlagen sei.
Nach mehreren Jahren inhaltlicher Auseinandersetzungen, die von
der Kommunistischen Partei ausdrücklich geduldet wurden, setzten
sich um 1928 die von der Staatsführung unterstützten VertreterInnen
einer realistischen und gegenwartsbezogenen Kunst durch. Um dem
niedrigen kulturellen Bildungsniveau des Proletariats zu entsprechen,
sollten die inhaltlichen Aussagen deutlich zum Ausdruck kommen und
leicht nachvollziehbar sein. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst
und der Literatur wurde dieser Weg von der Assoziation der Künstler
des revolutionären Rußland (AChRR) und der Russischen
Assoziation Proletarischer Schriftsteller (RAPP) propagiert. Die
Russische Assoziation Proletarischer Musikschaffender (RAPM) vertrat
eine entsprechende Position im Bereich der Musik und forderte die
Komposition einfacher und eingängiger Agitationslieder, Chorwerke
und Opern mit revolutionären Aussagen. Die zeitgenössische
Musik wurde dagegen, wie auch der Jazz, als westlich-dekadent und
letztlich antiproletarisch verurteilt.
In der Linken Front der Künste (LEF) organisierte sich die
revolutionäre Avantgarde der bildenden Kunst und der Literatur.
Die Ausrichtung der verschiedenen Strömungen innerhalb der
LEF war allerdings keineswegs einheitlich. Ein Teil der aktiven
Mitglieder konzentrierte sich auf den Bereich der Agitation und
entwarf beispielsweise leichtverständliche comicartige Bildreihen,
die im ganzen Land verteilt und ausgestellt wurden, während
andere LEF-Mitglieder mit völlig neuen Gestaltungsformen experimentierten.
Die VertreterInnen der sogenannten Produktionskunst sahen dagegen
die in den Staatsbetrieben entwickelten und hergestellten Gebrauchsgegenstände
als die wahren proletarischen Kunstwerke an.
Die meisten avantgardistischen MusikerInnen schlossen sich der Assoziation
für Zeitgenössische Musik (ASM) an, die in der Verbreitung
und Vermittlung von modernen russischen und westlichen Kompositionen
ihre Hauptaufgabe sah. Die ASM organisierte Aufführungen, gab
mehrere Zeitschriften heraus und förderte zeitgenössische
KomponistInnen. Dem selbstauferlegten Anspruch, nach neuen Ausdrucksformen
zu suchen, wurden jedoch nur wenige MusikerInnen der ASM gerecht.
Zu den experimentellsten Kompositionen gehörten einige Stücke,
die auf der Nachahmung von Maschinengeräuschen durch herkömmliche
Instrumente basierten. In der Frage der Ausdrucksform legte sich
die ASM, die ständigen Angriffen von Seiten der RAPM ausgesetzt
war, keineswegs dogmatisch auf die von ihr geförderte Musik
fest. Im Gegensatz zu anderen Organisationen akzeptierte sie auch
andere musikalische Gattungen wie zum Beispiel das Agitationslied
als authentischen Ausdruck der neuen Kultur. Der kulturpolitische
Umschwung in den späten zwanziger Jahren führte jedoch
in Folge zu einer zunehmenden Isolierung und letztlich zur Auflösung
der Organisation.
DER SOZIALISTISCHE REALISMUS
In den dreißiger Jahren löste sich die Sowjetunion endgültig
von den Prinzipien einer konsequenten revolutionären Politik,
die bis in die Mitte der zwanziger Jahre in verschiedenen Bereichen
angestrebt und teilweise auch umgesetzt wurde, danach aber nur noch
in einigen wenigen Ansätzen sichtbar war. Trotz dieser Prozesses
unterstützten viele revolutionäre KünstlerInnen innerhalb
und außerhalb der Sowjetunion die Politik der Kommunistischen
Partei. Sie sahen in der Sowjetunion die einzige Alternative zur
kapitalistischen Ausbeutung und das einzige ernsthafte Gegengewicht
zum Faschismus. Darüber hinaus hofften sie auf die Überwindung
der Mißstände und die langfristige Entwicklung einer
wirklich freien Gesellschaft.
Im April 1932 wurde die in den zwanziger Jahren teilweise gewährte
Toleranz gegenüber verschiedenen revolutionären Kunstströmungen
endgültig aufgehoben, die für die Entwicklung einer freien
Kultur unablässige ist. In einer Resolution beschloß
das Zentralkomitee der KP unter der Leitung von Josef Stalin die
Auflösung aller im künstlerischen und literarischen Bereich
tätigen Organisationen und den gleichzeitigen Aufbau von Einheitsorganisationen,
die streng an den Vorgaben der Partei ausgerichtet waren. Als maßgebliche
Organisation für den Bereich der Musik wurde in Folge der Resolution
der Verband sowjetischer Komponisten (VSK) gegründet, dem sich
neben den KomponistInnen auch MusikwissenschaftlerInnen anschließen
konnten. Der Verband beteiligte sich insbesondere an der Kampagne
gegen die zeitgenössische Musik, der eine Linksabweichung und
abstrakter Formalismus vorgeworfen wurde.
Beispielhaft wandte sich die Kampagne gegen die Oper Lady
Macbeth von Mzensk von Dmitri Schostakowitsch. Richtungsweisend
war eine in der KP-Zeitung Prawda veröffentlichte Kritik mit
dem bezeichnenden Titel Chaos statt Musik, in der Schostakowitsch
unter anderem vorgehalten wurde, entscheidend zur linken Entartung
der Oper beizutragen. Von der ersten Minute an, verblüfft
den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische
Flut von Tönen. Bruchstücke von Melodien, Keime einer
musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen
erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Dieser Musik
zu folgen ist schwer, sie sich einzuprägen unmöglich.
Alles ist grob, primitiv und vulgär. (...)(15)
Die wahrscheinlich von Stalin initierte Kritik, die anonym erschien,
griff auch die inhaltliche Aussage der Oper an, die das Scheitern
einer eigenständig lebenden Frau in der bürgerlichen Gesellschaft
beschrieb. Insbesondere wurde die Darstellung erotischer Handlungen
in einer sexualitätsfeindlichen Weise, die sich mit der damaligen
Politik der Partei deckte, scharf kritisiert. Als vorbildhaftes
Beispiel einer neuen Musikkultur galt dagegen die Oper Der
stille Don von Iwan Dserschinski, die 1935 erstmals aufgeführt
wurde. Die Oper entsprach den staatlich vorgegebenen neuen Anforderungen
nach der Verbindung einer an traditionellen nationalen Ausdrucksformen
ausgerichteten Musik mit leichtverständlichen und den Positionen
der Partei entsprechenden Aussagen. Der stille Don war
musikalisch einfach aufgebaut, beinhaltete eingängige Massenchöre
und integrierte folkloristische Elemente. Inhaltlich dargestellt
wurden die Erlebnisse eines Kosaken während der Revolutions-
und Bürgerkriegsjahre.
Einige Monate zuvor war die Frage der inhaltlichen und formalen
Ausrichtung der Musik auf einem Kongreß sowjetischer SchriftstellerInnen,
der im August 1934 stattfand, aus Sicht der Partei endgültig
geklärt worden. In zwei wegweisenden Beiträgen formulierten
der Schriftsteller Maxim Gorki und der Parteifunktionär Andrej
Zdanov das Konzept des Sozialistischen Realismus, welches in Folge
zur verbindlichen Grundlage für alle künstlerischen Ausdrucksformen
erklärt wurde. In einer einleitenden Rede führte Zdanov
die wesentlichen Elemente des Sozialistischen Realismus auf: Die
Haupthelden der literarischen Werke sind in unserem Land die aktiven
Erbauer des neuen Lebens: Arbeiter und Arbeiterinnen, Kollektivbauern
und Kollektivbäuerinnen, Parteifunktionäre, Wirtschaftler,
Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere. Unsere Literatur ist erfüllt
von Enthusiasmus und Heldentum, sie ist optimistisch ihrem Wesen
nach, weil sie die Literatur der aufsteigenden Klasse, des Proletariats,
der einzigen fortschrittlichen und fortgeschrittenen Klasse ist.
Die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische
Darstellung muß mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen
Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu
erziehen. Das ist die Methode, die wir als die Methode des Sozialistischen
Realismus bezeichnen.(16)
Ausgehend von der Forderung nach Parteilichkeit und Volksverbundenheit
wurde diese Methode auch auf die Musik angewandt. Der sozialistische
Komponist ergreift für das neue Leben Partei und nimmt solche
Stoffe, schafft solche Bilder und Gestalten, die dem gesellschaftlichen
Fortschritt dienen und beispielhaft einzuwirken vermögen auf
den Kampf der Arbeiterklasse für den Sieg des Sozialismus und
Kommunismus. Um anzusprechen, um belehren und aktivieren zu können,
geht der sozialistische Komponist von den großen Traditionen
der musikalischen Vergangenheit aus. Der Komponist des Sozialistischen
Realismus verwendet eine klare Gefühls- und Gedankensprache,
die sich in der Überschaubarkeit der Form und einer auffaßbaren
Melodik äußert.(17)
Der Grundwiderspruch des Konzeptes des Sozialistischen Realismus
lag in der politischen Entwicklung in der Sowjetunion. Das Ideal
einer freien, klassenlosen Gesellschaft wurde in der realen Praxis
durch die repressive Diktatur der Kommunistischen Partei bzw. zunehmend
durch die Diktatur Stalins ersetzt. Das Leben des angeblich sozialistisch
denkenden und handelnden neuen Menschen basierte nicht wie ursprünglich
angestrebt auf Prinzipien wie Solidarität, Gleichberechtigung
und Selbstbestimmung, sondern auf widerspruchsloser Unterordnung
und völliger Anpassung. Wer sich den politischen Vorgaben nicht
uneingeschränkt unterwarf, wurde inhaftiert, in Arbeitslager
deportiert und vielfach umgebracht. Von den Maßnahmen waren
insbesondere auch überzeugte KommunistInnen betroffen, die
an ihren Idealen festhielten und deshalb verfolgt wurden.
Die politischen Entwicklungen in den dreißiger und vierziger
Jahren spiegelten sich symbolhaft in der Einsetzung einer neuen
Nationalhymne. Als Hymne des sozialistischen Staates und der ArbeiterInnenbewegung
wurde die Internationale, die wie kein anderes Lied
in der Bevölkerung verankert war, in den ersten Jahren nach
der Revolution bei fast jeder Veranstaltung von den Anwesenden gesungen.
Die 1943 komponierte neue Nationalhymne erlangte dagegen nie eine
auch nur ansatzweise vergleichbare Verbreitung. Inhaltlich trat
die Betonung des Vaterlandes an die Stelle der zuvor
propagierten internationalen Solidarität der ArbeiterInnen.
Im Mittelpunkt stand nicht länger das Proletariat als revolutionäre
Kraft, sondern Stalin als übermächtiger Staatsführer,
der das Volk zur Treue, zur Arbeit und zu großen Taten
erzog. Die Ansätze einer befreiten Gesellschaft waren
zu diesem Zeitpunkt längst in weiten Bereichen einer rückschrittlichen
Diktatur gewichen, der Traum eines auf Gleichheit und Solidarität
basierenden Lebens hatte sich zum Alptraum verwandelt.
(1998)
Anmkerkungen:
1) Wladimir Iljitsch Lenin zitiert in: Zetkin, Clara / Erinnerungen
an Lenin. (1924). (Dietz). Berlin, 1985.
2) Aus einem Aufruf von Anatoli Lunacarski. Prawda 1.12.1917. Zitiert
in: Kröplin, Eckart / Frühe sowjetische Oper. (Henschelverlag).
Berlin-Ost, 1985.
3) Lunacarski, Anatoli / Die Revolution und die Kunst. (1920). (Verlag
der Kunst). Dresden, 1974.
4) Über den Proletkult - Resolution der 1. Gesamtrussischen
Konferenz der Proletkult-Organisationen, Moskau, September 1918.
In: Lorenz, Richard (Hrsg.) / Proletarische Kulturrevolution in
Sowjetrußland. (Deutscher Taschenbuch Verlag). München,
1969.
5) Kerzencev, Platon / Die Arbeitsmethoden des Proletkult. (1919).
In: Lorenz / Kulturrevolution. (Siehe 4).
6) Majakowski, Wladimir / Ich selber. (1922 / 1928). In: Majakowski,
Wladimir / Wie macht man Verse? (Suhrkamp). Frankfurt am Main, 1964.
7) Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste.
(1918). In: Majakowski, Wladimir / Werke - Band 5 (Publizistik).
(Insel Verlag). Frankfurt, 1973.
8) Kommunisten - Futuristen / Proletarier aller Länder, vereinigt
Euch. (1919). In: Gaßner, Hubertus und Gillen, Eckhart / Zwischen
Revolutionskunst und Sozialistischen Realismus. (DuMont). Köln,
1979.
9) Zeitgenössische Darstellung. Zitiert in: Kröplin, Eckart
/ Frühe sowjetische Oper. (Verlag). Berlin, 1985.
10) Majakowski, Wladimir / Linker Marsch.(1918). In: Schaumann,
Gerhard (Hrsg.) / Wladimir Majakowski - Gedichte. (Reclam). Leipzig,
1988.
11) Krasin, Boris / Womit und wie mit der Arbeit auf musikalischem
Gebiet begonnen werden soll. (1920). In: Lorenz / Kulturrevolution.
(Siehe 4).
12) Alexander Gretschaninow zitiert in: Schwarz, Boris / Musik und
Musikleben in der Sowjetunion. (Heinrichshofens Verlag). Wilhelmshaven,
1982.
13) Auszug aus einem Artikel, der 1919 in der Zeitschrift Gryaduschchee
erschien. Zitiert in: Stites, Richard / Revolutionary Dreams. (Oxford
University Press). New York, 1991.
14) Awraamow, Arseni / The Symphony of Sirens (1923). In: Kahn,
Douglas und Whitehead, Gregory (Hrsg.) / Wireless Imagination -
Sound, Radio and the Avant-Garde. (MIT-Press). Massachusetts, 1992.
15) Chaos statt Musik. Prawda, 21.12.1936. In: Oper
Frankfurt (Hrsg.) / Lady Macbeth von Mzensk. Frankfurt am Main,
1993.
16) Zdanov, Andrej / Die Sowjetliteratur, die ideenreichste und
fortschrittlichste Literatur der Welt. (1934). In: Schnitt, Hans-Jürgen
und Schramm, Godehard (Hrsg.) / Sozialistische Realismuskonzeptionen
- Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller.
(Suhrkamp Verlag). Frankfurt am Main, 1974.
17) Siegmund-Schultze, Walther / Ziele und Aufgaben der sozialistischen
Musikerziehung. (Breitkopf & Härtel). Leipzig, 1967.
Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume
- Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
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