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Wolfgang Sterneck
KOLKATA - IN DEN SLUMS EINER MEGACITY
- Meditation auf einer Mülldeponie
- Der abgebrochene Bleistift
- Unter dem Staub ein Lächeln
- Die verkaufte Revolution
- Sexarbeit und Straßenkunst
Immer wieder begegnen uns Kinder, die Müll sammeln und später
gemeinsam auf einem Stück Pappe auf dem Bürgersteig übernachten.
Auf der anderen Straßenseite findet hinter einer abgrenzenden
Mauer eine mehrtägige Hochzeit in ausschweifend luxuriösem
Ambiente statt.
Kolkata ist eine Stadt der Extreme, geprägt von vielschichtigen
Gegensätzen und Widersprüchen. Fernab von Bollywood, Goa-Parties
oder Indien-Romantik stehen hier Überlebenskampf, Solidarität
und Ignoranz eng nebeneinander.
MEDITATION AUF EINER MÜLLDEPONIE
In einem Vorort von Kolkata (ehemals Kalkutta) stehen Moon und ich
auf einen Müllberg. Krähen kreisen über dem Gelände.
Vor uns laufen einige Schweine vorbei, um dann eine Tüte mit
einem schwer definierbaren Inhalt auseinander zu reißen. Beladene
Laster rollen den Weg hinauf und hinterlassen Sandwolken in der
ohnehin schon völlig staubigen, schweratmigen Luft. Dazwischen
suchen Kinder im Müll nach Hartplastik, Papier oder anderen
noch verwertbaren Materialien, um sie dann zu einem Minimalbetrag
an einen Zwischenhändler weiterzuverkaufen.
Wer eine Megacity wie Kolkata zumindest ansatzweise von Innen heraus
kennen lernen will, der sollte den Reiseführer mit den Beschreibungen
der kolonialen britischen Prachtbauten zur Seite legen und sich
auf die Suche nach den eigentlichen Gesichtern der Stadt machen.
Zweifellos entsprechen derartige Mülldeponien und die umgebenden
Slums nur einer Seite der Stadt. Doch gerade hier finden auf einer
lokalen Ebene ganz unmittelbar die globalisierten Mechanismen sozialer
Ausbeutung und ökologischer Zerstörung einen Ausdruck.
Als Gäste der Menschen auf diesem Müllberg kommen in uns
Fragen nach Wertigkeiten und den Gestaltungsmöglichkeiten von
Lebenswegen auf. Schweigend laufen wir umher, verweilen, lassen
die Atmosphäre auf uns wirken, nehmen sie auf, tauchen in sie
hinein. Wohl wissend, dass wir uns als Außenstehende, die
diesen Platz bald wieder verlassen werden, dieser Wirklichkeit nur
annähern können. Der Prozess gleicht einer urbanen Meditation,
die keinen Tempel sucht und keinem imaginären Gott huldigt,
sondern sich in die konkrete Erfahrung begibt. Eine Erfahrung, die
für unzählige Menschen auf diesem Erdball der alltäglichen
Realität entspricht.
Als wir uns durch die Müllschichten einen Weg bahnen, kommen
uns drei Kinder entgegen. Ihr Lebensinhalt besteht zu einem wesentlichen
Teil in der Arbeit auf dieser Halde. Und doch strahlen sie während
unseres Gespräches von Innen heraus durch ihre Augen, ihre
Worte und ihre tanzenden Bewegungen. Am Ende erhebt einer von ihnen
kämpferisch die Faust. Sie ist gegen niemanden direkt gerichtet,
sondern vielmehr ein Zeichen der lächelnden Lebendigkeit in
einer zerstörenden Umwelt.
DER ABGEBROCHENE BLEISTIFT
Mehrere Slum-Siedlungen haben sich am Subhas Sarovar gibildet, einem
idyllischen, aber völlig verunreinigten See im Ostteil von
Kolkata. Dort unterhalte ich mich in gebrochenem Englisch, sowie
mit Zeichensprache und vor allem beiderseitig guten Willen mit einigen
BewohnerInnen. Anfangs geht es um unsere Familien, anschließend
im Zuge eines lockeren Gekickes mit einem fast platten Ball auch
um Fußball. Eine Zeit lang steht die vergebliche Hoffnung
im Mittelpunkt, ich könnte Arbeit vermitteln. Es folgt eine
fragmentarische Diskussion über materielle Armut und inneren
Reichtum.
Insbesondere mit Kindern ergibt sich schnell ein Kontakt. Um über
die üblichen Fragen der Kinder nach Namen und Herkunftsland
hinauszukommen, beginne ich auf einem Zettel etwas zu schreiben
und zu zeichnen. Schnell entwickelt sich im Rahmen der zwangsläufig
eingeschränkten Möglichkeiten eine neue Kommunikationsebene.
Einige Kinder schrieben ihren Namen oder zeichneten ebenfalls auf
den Zettel. Meist waren es einfache Motive aus der direkten Umgebung,
wie einige Häuser und Bäume. Dazwischen finden sich einige
tanzende Menschen mit lächelnden Gesichtern.
Am folgenden Tag versuche ich den Kontakt weiter zu entwickeln,
in dem ich an weitere Kinder Zettel, Stifte und auch Spitzer verteile.
Ich hatte mich bewusst für Bleibstifte aus abbaubarem Holz
entschieden, um nicht durch Filzstifte oder Kulis zur weiteren Anhäufung
des Plastikmülls beizutragen. Nicht ausreichend bedacht hatte
ich jedoch, dass die meisten Kinder keine Erfahrung mit Bleistiften
hatten bzw. ohnehin kaum einmal in ihrem Leben geschrieben oder
gezeichnet haben. Zum Teil drückten so deshalb viel zu fest
mit dem Stift auf den Untergrund, so dass bei vielen Kindern gleich
die Spitze abbrach.
UNTER DEM STAUB EIN LÄCHELN
Die Behausungen in den Slums bestehen zumeist aus Blech- und Holzplatten,
über die an einigen Stellen löchrige Planen gespannt sind.
Alles ist von einer grauen Staub- und Schmutzschicht überzogen.
An einer Hütte ist darunter noch ein Verkaufsslogan und ein
breit lächelndes Gesicht zu erkennen, das klar macht, dass
diese Abtrennwand einst zu einem großformatigen Werbebanner
gehörte. Im Inneren befinden sich kaum mehr als ein Gestell
mit einigen Tüchern als Schlafplatz, einige Gebrauchsgegenstände
und als farbenfroher Gegensatz zur sonstigen Umgebung spirituelle
Bilder. Es gibt weder fließendes Wasser noch elektrischen
Strom.
Beißender Smog durchzieht die gesamte Stadt. Insbesondere
in den ärmeren Vierteln von Kolkata sind die Straßen
von Müll übersät. Eine Entsorgung von Seiten der
Stadt ist bestenfalls eingeschränkt gegeben. Öffentliche
Müllbehältnisse sind nicht vorhanden, stattdessen bilden
sich in den Straßen teilweise Müllhaufen, die dann wieder
von SammlerInnen durchwühlt werden. Offensichtlich ist, dass
ein ökologisches Bewusstsein kaum vorhanden ist bzw. in Anbetracht
der umgebenden Bedingungen gegebenenfalls auch nur eingeschränkt
umgesetzt werden kann.
Ein funktionierendes Wassersystem besteht in vielen Stadtteilen
bestenfalls ansatzweise. Die künstlichen Rinnsale direkt am
Straßenrand werden gleichermaßen zur Hygiene, zum Waschen
von Geschirr und Kleidung, teilweise auch als Toilette, sowie zudem
oftmals zur Abschöpfung von Trinkwasser genutzt.
Auffallend ist immer wieder die Genügsamkeit mit der in Indien
zumeist derartige Lebenswelten angenommen werden. Verwurzelt ist
sie in den religiösen Annahmen, dass das derzeitige Leben nur
eines von vielen ist. Die besondere Ausgestaltung der derzeitigen
Existenz sei wesentlich vom vorherigen Leben mitbestimmt und beeinflusst
wiederum zukünftige Wiedergeburten. Diese Grundhaltung eröffnet
zum Teil eine beachtliche Gelassenheit und innere Ausgeglichenheit.
Sie führt jedoch zum Teil auch in eine Schicksalsergebenheit,
die notwendige gesellschaftliche Veränderungen vernachlässigt
bzw. die Möglichkeit eines besseren Lebens auf einer persönlichen
Ebene in nächste Inkarnationen verlagert.
Inzwischen leben wohl weit über 15 Millionen Menschen in Kolkata
und den diversen Randgebieten. Auf den ersten Blick gleicht die
Stadt einem riesigen Chaos, wobei insbesondere die Slums unüberschaubar
erscheinen. Doch gerade hier haben sich vielfältige gemeinschaftliche
Strukturen herausgebildet. Getragen sind sie auf vielen Ebenen von
gegenseitiger Hilfe und Solidarität, wie auch von Improvisation,
Genügsamkeit und einer grundlegend positiven Lebenshaltung.
Fließend sind jedoch die Übergänge zu Bereichen,
in denen der ständige Überlebenskampf vom Recht des Stärkeren
bestimmt wird.
DIE VERKAUFTE REVOLUTION
In den ärmeren Vierteln findet sich vielfach das rote Hammer-und-Sichel-Symbol
an den Hauswänden. Im Bundesstaat Westbengalen bzw. in seiner
Hauptstadt Kolkata steht es jedoch nicht für eine im Untergrund
agierende kommunistische Gruppe, sondern für die dort seit
weit über dreißig Jahren regierende "Communist Party
of India (Marxist)". In keinem anderen Land gelang es einer
kommunistischen Partei in freien demokratischen Wahlen über
einen vergleichbar langen Zeitraum immer wieder gewählt zu
werden.
Von der einstigen revolutionären Kraft oder gar von der Vision
einer tatsächlich gerechten Gesellschaft ist jedoch auch in
Kolkata kaum etwas übrig geblieben. Die Partei verweist zwar
auf Fortschritte hinsichtlich einer gerechteren Landverteilung und
der Bekämpfung der Armut, doch faktisch erinnert gerade in
Kolkata die reale Politik eher an sozialdemokratische oder neoliberale
Positionen.
So lag ein Schwerpunkt in der Entwicklung einer investitionsfreundlichen
Atmosphäre, um über neue Arbeitsplätze und erhöhte
Steuereinnahmen zu einem Aufschwung der Stadt bzw. des Bundesstaates
beizutragen. Dies führte dazu, dass paradoxerweise die Wirtschaftspolitik
der Kommunistischen Partei von multinationalen Konzernen ausdrücklich
gelobt wurde, während sich sozial engagierte Basisgruppen von
der Partei ausdrücklich distanzierten.
Die gegenläufigen Entwicklungen fanden 2007 bei den Auseinandersetzungen
um die Errichtung einer "Special Economic Zone" in der
Provinzstadt Nandigram einen tragischen Höhepunkt. Große
Teile der Bevölkerung wehrten sich gegen Landenteignungen zugunsten
eines Unternehmens, das unter anderem den Bau einer Chemiefabrik
plante. Der Widerstand wurde auf Anordnung der Kommunistischen Partei
durch bewaffnete Polizeikräfte gewaltsam niedergeschlagen.
Vierzehn AktivistInnen der Potestbewegung kamen dabei zu Tode.
Allgemein wird damit gerechnet, dass die Kommunistische Partei die
2011 anstehenden Wahlen klar verlieren wird. Doch unabhängig
von der politischen Ausrichtung der regierenden Parteien krankt
das politische System in weiten Teilen an Machtmissbrauch, Korruption
und Vetternwirtschaft, sowie an einer Ignoranz gegenüber ökologischen
Aspekten. Insbesondere die Veränderungsprozesse, die in den
Slums eine Bedeutung erlangen, werden zumeist nicht von den Parteien
angestoßen, sondern vielmehr von den Graswurzelprojekten,
die an der Basis vor Ort aktiv sind.
SEXARBEIT UND STRASSENKUNST
Zu den größten Graswurzelgruppen gehört die in der
Mitte der neunziger Jahre gegründete Organisation Durba, der
in Westbengalen rund 65.000 Sex-ArbeiterInnen angehören. Inzwischen
kann Durba auf eine Reihe von Erfolgen blicken. So gelang es durch
AIDS-Aufklärungskampagnen und ein geschlossenes Auftreten den
lange von den meisten Freiern abgelehnten Gebrauch von Kondomen
zu einer Selbstverständlichkeit zu machen. Eingerichtet wurden
besondere Angebote für Sex-ArbeiterInnen in den Bereichen Gesundheitsversorgung,
Kinderbetreuung und Kultur, sowie unter anderem auch zur Geldverwaltung.
Zudem förderte der Zusammenschluss eine grundlegende Solidarisierung,
wie auch die Entwicklung eines gestärkten Selbstbewusstseins.
So gehen Durba-AktivistInnen inzwischen im Rotlichtviertel von Kolkata
auch militant gegen gewaltsame Freier oder Zuhälter vor.
Zentral für die Entwicklung Kolkatas ist der Bereich der Bildung.
Hier spiegeln sich besonders deutlich die sozialen Gegensätze,
die für ganz Indien charakteristisch sind. Während Kolkata
inzwischen zu den führenden Städten der IT-Branche in
Indien zählt, haben viele Slum-BewohnerInnen kaum Rechen- und
Schreibkenntnisse. Die Analphabetenrate liegt bei rund 20 Prozent.
Solange das staatliche Schulsystem nur einen begrenzten Teil der
Bevölkerung erreicht, sind gerade in den Armenvierteln der
Stadt Bildungsprojekte von großer Bedeutung, die von Basisgruppen
und Hilfsorganisationen getragen werden. So konzentriert sich das
Projekt "H.E.L.G.O. - Help for Education and Life Guide Organisation"
auf Kinder, die zum Teil schon ab dem achten Lebensjahr arbeiten
müssen. Das Projekt erstattet den Familien den geringen, aber
lebensnotwendigen Lohn unter anderem in Form von Lebensmitteln und
Gebrauchsgütern unter der Bedingung, dass die Kinder nicht
mehr arbeiten müssen und stattdessen regelmäßig
zur Schule gehen.
Unter dem Motto "Art for Positive Change" organisiert
Magic Wallrush in Kolkata kulturelle Projekte, die in den öffentlichen
Raum eingreifen. So organisierte die Gruppe eine Ausstellung mit
Werken junger, engagierter KünstkerInnen, die direkt in einer
Straße an Zäumen, Absperrungen und Hauswänden aufgehängt
wurden. Die Mitglieder von Magic Wallrush gehören auch zu den
InitiatorInnen des Ujaan-Festivals, das dem Erhalt der für
das Ökosystem äußerst wichtigen Sundarbans-Mangrovenwälder
gewidmet ist. Neben Auftritten von Bands stehen auch gemeinsame
Entmüllungsaktionen in stark verunreinigten Abschnitten, sowie
die Unterstützung von lokalen Gesundheits- und Bildungsprojekten
auf dem Programm. Das Festival zielt dabei im Sinne von "Party
and Politics" auf die Stärkung des öffentlichen Bewusstseins
hinsichtlich ökologischer Aspekte unter der Berücksichtung
sozialer Fragen.
Wie alle anderen Megacitys der Gegenwart schließt Kolkata
unzählige soziale Abgründe ein. Zunehmend verschärfen
sich zudem die ökologischen Problematiken. Die neoliberale
Ideologie des unablässigen Wachstums verdrängt diese Entwicklungen
nicht nur, sondern nimmt sie unter der Maxime der Profitsteigerung
bewusst in Kauf. Ein Gegengewicht bilden immer wieder lokale Graswurzelprojekte,
in denen sich zumindest in Ansätzen auf einer praktischen Ebene
die Visionen einer gerechten Gesellschaft widerspiegeln.
- °* -
Artikel (Rmx) aus: Graswurzelrevolution
Nr. 360, Sommer 2011
Foto-Set
:
Kolkata Waste Dump Vision - Urbane Meditation auf einer Mülldeponie.
(2010).
www.sterneck.net
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