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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Wolfgang Sterneck

DIE ABGRÜNDE KALIS

Im Grunde ist es nur ein
schwarzer Gesteinsblock und einige Tücher,
die das Zentrum des
Kalighat-Tempels in Kolkata bilden.
Dem Mythos zufolge wurde Kalis Leichnam
im Universum in einundfünfzig Stücke zerstückelt.
Jeder Ort, an dem ein Körperteil hinab fiel,
wurde zu einem Wallfahrtsort.
Dort wo vermeintlich der Zeh Kalis niederging,
wurde der Kaligath-Tempel errichtet.
Um ihn herum als energetisches Zentrum
soll sich Kolkata als Stadt gebildet haben.

Entscheidend ist jedoch nicht der Stein
und seine Gestaltung.
Auch die Frage nach dessen eigentlichen Ursprung
ist nicht die entscheidende.
Wesentlich ist das,
was in darin hinein interpretiert wird.
Wesentlich ist, welche Bedeutung
einem Gegenstand oder
einem Ort zugemessen wird.
Durch die Symbolik entstehen Bedeutungsebenen,
die Wahrnehmung und Verhalten prägen.
Wechselwirkend beeinflussen dann die Symbole
die Energien der Betrachter,
wie auch die entsprechenden Energien
wiederum die Wahrnehmung
der Bedeutungsebenen beeinträchtigen.

Während die Begegnungen in den Slums
meist von einer freundlichen Offenheit geprägt waren,
so ist im Umfeld des Kalighat-Tempels
eine andre Atmosphäre zu spüren.
Die ständige Unruhe,
die ein Charakteristikum der Stadt bildet,
hatte hier zunehmend etwas unterschwellig aggressives.
Das Auftreten der oftmals verkrüppelten Bettler,
wie auch das der lautstarken Händler und
der bewaffneten Polizisten.

Im Tempel selbst wird diese Atmosphäre noch intensiver.
Durch die engen Gängen zwischen den Gebäudeteilen
werden drängen unablässig Menschengruppen.
Am Eingang erhalten wir einige Rosenblätter,
die wir später rituell auf die Kali-Gesteinsskulptur werfen sollen.
Diese befindet sich in einem kleinen, dunklen Raum.
Vor ihr ein Geländer und eine Platte mit einer Feuerstelle.
Der Raum ist von Menschen überfüllt,
die über eine kleine Treppe herein und
heraus geführt werden.
Alle Gäste sind barfuss.
Der Boden ist rutschig,
es bestehen kaum Möglichkeiten sich festzuhalten.
Die Atmosphäre ist völlig aufgeladen.

Vor der Skulptur stoßen einige Gläubige
rücksichtslos andere zur Seite,
um einen Blick auf Kali zu erhaschen und
die Blätter auf sie zu werfen.
Die gesamte Situation ist unübersichtlich.
Das Verhalten der meisten Anwesenden
ist völlig auf diesen rituellen Vorgang konzentriert,
sowie auf das Bestreben
in dieser Menschenmenge nicht unterzugehen.
Kali wird zur alles durchziehenden Energie.
Als Symbol prägt sie durch die Bedeutungsebenen,
die in sie projiziert werden,
und wechselwirkend die Atmosphäre.

In meiner Wahrnehmung wird
der dunkle Bereich
zwischen Feuerstelle und Skulptur
zu einem Abgrund.
Er scheint in eine verschlingende Tiefe
ins Erdinnere zu führen
und gleichzeitig in die dunklen Seiten
der menschlichen Psyche.

Als wir versuchen zum Ausgang zu gelangen,
spüre ich etwas an meinem Bein.
Es ist ein kleines,
auf dem Boden liegendes Kind,
das mich mit weit aufgerissenen
dunklen Augen anblickt.
Mit der einen Hand versucht es sich an mir festzuhalten.
Die andere Hand ist mir zugesteckt,
um Geld bettelnd.

Wir werden weiter geführt.
Vorbei an einer vorgeblichen Armenküche,
auf die wir nur einen kurzen Blick werfen können.
Kurz danach werden wir trickreich aufgefordert,
uns in eine Art Gästebuch einzutragen
und gleich dazu eine weitere Summe aufzuführen,
die wir zusätzlich zum bereits vereinbarten Betrag
an "poor people" spenden werden.
Wer genau diese armen Menschen wird nicht erläutert.
Höchstwahrscheinlich landet das Geld,
das so eingenommen wird,
zu wesentlichen Teilen in den Taschen
der Guides und des Wachpersonals.

Als wir uns weigern, wir der Guide aggressiv.
Es entsteht eine heftige verbale Auseinandersetzung
zwischen ihm und Pintu, unserem befreundeten Begleiter,
woraufhin die Führung lautstark abgebrochen wird.

Kali benötigt keine an sie gerichteten
Gebete oder Meditationen,
sie blüht vielmehr in den Energien
des Tempels auf und prägt sie gleichzeitig.

Es sind Bilder und Symbole,
die wir mit unseren Energien aufladen.
Energien, denen wir Raum geben.
Manchmal helfen entsprechende Symbolebenen
sich mit ohnehin bestehenden Energien
auseinanderzusetzen.
In anderen Zusammenhängen
erhalten sie in der Wechselwirkung
von äußeren und inneren Faktoren
eine irrationale Macht.
Wir selbst wählen in weiten Bereichen die Wege
und können sie entsprechend gestalten.


Wolfgang Sterneck, Kolkata, 27. Februar 2011.
- °* -
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