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Wolfgang Sterneck:
FREIE LIEBE
Wirkliche Liebe ist ein Gefühl, das viel tiefer geht als all
das, was gewöhnlich als Liebe bezeichnet wird. Es beinhaltet
den Ausbruch aus dem Vorgegebenen, die Überwindung des Egoismus
und die Fähigkeit geben zu können. Es ist eine tiefe innere
Verbindung, die sich keineswegs nur auf einen Menschen beschränken
muss.
Wirkliche Liebe hat nur wenig gemeinsam mit dem Begriff der Liebe,
der uns aufgezwängt wird und den die meisten von uns verinnerlicht
haben. Sie hat nichts zu tun mit den Gefängnissen der Beziehungen
und der Ehe. Die romantische Liebe, wie sie uns von den Medien immer
wieder vermittelt wird, ist von seltenen Ausnahmen abgesehen, eine
Illusion. Und die, die daran glauben, täuschen sich letztlich
nur selbst.
Die meisten herkömmlichen Beziehungen gleichen schon nach kurzer
Zeit einer Straße, deren Verlauf vorgeben ist und unter dem
Beton alles Leben vergräbt bis sie in einer Sackgasse endet.
Eine offene Beziehung zwischen zwei Menschen, die auf der Vorstellung
der freien Liebe basiert, entspricht dagegen zwei Wegen, die sich
kreuzen. Sie verlaufen zeitweise nebeneinander und werden phasenweise
zu einem, beinhalten aber immer wieder Strecken, in denen sie sich
trennen, zum Teil weit voneinander entfernen oder vielleicht sogar
verschiedenen Richtungen einnehmen, um dann an bestimmten Orten
wieder zusammenzufinden.
Es ist fast unmöglich die Bedürfnisse nach Kontakt und
Austausch, nach Zärtlichkeit und Sexualität über
einen längeren Zeitraum auf einen Menschen zu fixieren - es
ist auch nicht notwendig. Vielmehr ist es durchaus möglich
und selbstverständlich zu mehreren Menschen ein Gefühl
tiefer Zuneigung und Wärme zu empfinden, vielleicht sogar jede
und jeden von ihnen auf eine eigene Weise zu lieben.
Wenn nach der anfänglichen Phase des Verliebtseins, indem sich
oft alle Empfindungen auf die entsprechende Person konzentrieren,
die Gefühle füreinander nachlassen oder sich verändern,
und auch wieder andere Menschen interessant werden, dann stellt
sich die Frage, ob Fesseln angelegt werden oder versucht wird mit
diesen Bedürfnissen offen umzugehen.
Die Idee einer offenen Beziehung beinhaltet das Bestreben diese
Gefühle zuzulassen und nicht zu unterdrücken. Das heißt
konkret, der Partnerin oder dem Partner die Möglichkeit zu
geben mit anderen engeren Kontakt zu haben, sich selbstverständlich
mit einer anderen Person zu treffen, vielleicht auch Zärtlichkeiten
auszutauschen oder miteinander zu schlafen.
Auch wenn es in der bestehenden Gesellschaft normal ist, so hat
im Grunde niemand, auch kein Beziehungspartner oder -partnerin das
Recht, dies zu untersagen. Wer es dennoch tut, offenbart im Grunde
nur den eigenen Egoismus indem versucht wird, die angeblich so geliebte
Person einzuschränken und deren Gefühle zu unterdrücken.
Eifersucht hat nur wenig mit Liebe zu tun, sondern vielmehr mit
Besitzgier und Verlustangst.
Das herrschende System basiert auf der Idee des Besitzes von materiellen
Dingen wie auch von Menschen, von deren Arbeitskraft, von deren
Wissen, von deren Gefühlen. Gesellschaften, die kein Privateigentum
kannten, die davon ausgingen, dass beispielsweise keine Person ein
Stück Land besitzen kann, weil es gleichzeitig allen und niemanden
gehört, die kannten auch keinen eheähnlichen Besitzanspruch
und sie kannten auch keine Eifersucht.
Eine wesentliche Voraussetzung für eine offene Beziehung ist
die Bereitschaft auf andere einzugehen, aber auch in sich selbst
hineinzuschauen, sich mit eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen
und diese zu hinterfragen. Wichtig ist dabei, dass gleichermaßen
die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche, sowie
die Ängste und Schwächen gezeigt werden, darüber
offen geredet wird und gemeinsam nach einem Weg gesucht wird. Gerade
Männern, denen vielfach noch eingeredet wird, dass Männlichkeit
Härte und Gefühllosigkeit bedeutet, fällt dies oftmals
sehr schwer.
Wenn Du ehrlich zu Dir bist, dann stellst Du schnell fest, dass
Du in Deiner derzeitigen Beziehung oder in ehemaligen zumindest
zeitweise tiefere Empfindungen für Menschen außerhalb
dieses Verhältnisses gehabt hast. - Warum diese Gefühle
unterdrücken, warum sich nicht dazu bekennen und die Möglichkeiten
schaffen sie auszuleben? Warum bindet Ihr Euch so eng aneinander
und geht nicht weiterhin Euren eigenen Weg, um in bestimmten Momenten,
über deren Tiefe und Länge Ihr frei entscheiden könnt,
zusammen zu kommen, ohne Euch gegenseitig Eure Freiheit zu nehmen?
Es ist ein langer Prozess, der seine Zeit braucht und sicherlich
auch mit Schmerzen verbunden sein wird. Zu viel haben wir von frühester
Kindheit an verinnerlicht und zu allgegenwärtig ist die scheinbar
so selbstverständliche Darstellung des Besitzdenkens. Aber
was haben wir zu verlieren? Schau Dich um, sicherlich sind fast
alle festen Beziehungen, die Du kennst, immer wieder davon geprägt,
daß der Partner oder die Partnerin entweder einen Teil ihrer
Gefühle unterdrückt oder sie heimlich auslebt. Die Alternative
heißt offen sein, keine künstlichen Barrieren aufbauen,
sondern sich im Fluss befinden. - Geben und das nehmen was freiwillig
gegeben wird.
Wenn Du in die Gesichter der Menschen blickst, die mit Dir in der
Bahn sitzen, oder wenn Du Dir bewusst die Reklamefassaden anschaust,
dann wirst Du mehr und mehr spüren, wie wichtig es ist, dass
wir uns einem veränderten Verständnis von Liebe öffnen
und ihre Wärme der fast allgegenwärtigen gesellschaftlichen
Kälte entgegenstellen.
aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck (Hg.) /
Cybertribe-Visionen
KomistA / Nachtschatten • ISBN 3-928988-04-2
www.sterneck.net/komista/visionen
www.sterneck.net
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