|
|
Wolfgang Sterneck
DIE GATHERINGS DER CYBERTRIBES
DIE NEUEN STÄMME
Die Vision des Cybertribes verbindet das Wissen alter Kulturen mit
dem Verständnis der Gegenwart. Sie verknüpft die Erfahrungen
von Hexen, Widerstandskämpferinnen und Reality-Hackern, um
sie im Heute zu nutzen und für die Zukunft weiterzuentwickeln.
Persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung
können dabei zu einer neuen Einheit verschmelzen.
Die Cybertribe-Vision steht keineswegs für ein fest gefügtes
Organisationsprinzip oder gar eine dogmatische Ideologie. Auch müssen
sich die entsprechenden Projekte keineswegs selbst als Cybertribes
beschreiben, um Elemente der Vision konkret umzusetzen. Es geht
vielmehr um „Tribes“ als Gemeinschaften, Projekten und
Communities, die zeitgemäße Technologien, symbolhaft
im Begriff „Cyber“ zusammengefasst, zur Interaktion
nutzen.
Diese postmodernen Stämme setzen mit unterschiedlichen Schwerpunkten
den vorherrschenden autoritären Strukturen flexible, auf Gleichberechtigung
und Selbstbestimmung basierende Netzwerke entgegen. Sie entstehen
überall dort, wo der Manipulation ein neues Bewusstsein, dem
Prinzip der Konkurrenz das Prinzip der Solidarität und dem
Prozess der Zerstörung eine Politik des Widerstands entgegengesetzt
wird.
Elemente der Cybertribe-Vision finden sich in unterschiedlichen
Bereichen. So stellen sich beispielsweise im australischen Outback
urbane Polit-AktivistInnen gemeinsam mit Aborigine-Gruppen der Umweltzerstörung
durch den Uranabbau entgegen und nutzen dabei traditionelle Rituale,
wie auch elektronische Musik und moderne Medien. Die PsychonautInnen
der Gegenwart gebrauchen gleichermaßen entheogene Pflanzen
und vergleichsweise neue psychedelische Substanzen für ihre
Reisen in den inneren Kosmos. Und im Idealfall entsprechen Techno-
und Goa-Parties ursprünglichen Trance-Ritualen, bei denen nicht
mehr Holztrommeln, sondern elektronische Instrumente genutzt werden.
Die einzelnen Cybertribes in ihren unterschiedlichen Ausprägungen
sind dabei ein Aufschrei und ein Aufbäumen gegen die allgegenwärtige
Ausbeutung von Mensch und Natur. Teilweise entsprechen sie jedoch
auch einer Flucht oder dem sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan
in Anbetracht der ökologischen und sozialen Entwicklungen.
Unter den gegebenen Machtverhältnissen erscheint es unrealistisch
nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Dennoch hat jeder und
jede Einzelne die Verantwortung, Sand nicht Öl in der gigantischen
Maschinerie der Zerstörung zu sein. Zahlreiche Projekte, die
im Sinne der Cybertribe-Vision agieren, zeigen immer wieder die
Notwendigkeit und die konkrete Möglichkeit sich zu widersetzen
und Freiräume zu entwickeln, in denen zumindest ansatzweise
ein anderes Leben möglich ist.
MUSIC, MIND AND POLITICS
Eine Entsprechung findet die Cybertribe-Vision unter anderem in
einigen Projekten des Undergrounds der Techno- und der Psychedelic-Trance-Kultur.
In den neunziger Jahren hatte sich das Lebensgefühl eines wesentlichen
Teils der jüngeren Generationen in diesen Szenen bzw. den entsprechenden
Partys gespiegelt. Neue musikalische Ausdrucksformen und ein besonderes
Gemeinschaftsgefühl, sowie die Erfahrung trancehafter Zustände
durch stundenlanges Tanzen und der Gebrauch psychoaktiver Substanzen
prägten die Entwicklungen.
Die Psy-Trance-Szene eröffnete ein erweitertes Party-Verständnis,
das ursprünglich von einem ganzheitlichen Ansatz geprägt
war. Sie gab zum Teil wichtige Impulse für alternative kulturelle
Entwicklungen wie auch für eine persönliche Entfaltung.
Die Szene hat jedoch nach einigen inspirierenden Jahren ihren kreativen
Höhepunkt längst überschritten und sich zunehmend
stagnierend in einem Geflecht aus Klischee, Konsum und Kommerz verfangen.
Notwendig ist vor diesem Hintergrund innerhalb der Szene eine reflektierende
Auseinandersetzung über die Entwicklungen, die über die
Diskussion neuer musikalischer Trends weit hinausgeht. Ein anderer
Ansatz liegt in der verstärkten Entwicklung von Netzwerken,
die zum Austausch und zur synergetischen Bündelung von Energie
entscheidend beitragen können. Beispielhaft hierfür ist
das Szenen übergreifende Sonics-Cybertribe-Netzwerk, dem alternative
und idealistische Projekte angehören, die ihren Ursprung in
der Party-Kultur haben. Wesentlich ist dabei immer wieder die Weiterentwicklung
eines Verständnisses, das kulturelle und politische Ansätze
ganzheitlich miteinander verbindet.
Ein derartiges Verständnis kommt im Connecta-Konzept zum Ausdruck,
das auf der Verbindung von „Music, Mind and Politics“
basiert. Dabei fließen neben dem musikalischen Programm vielfältige
Elemente in die entsprechenden Events ein, darunter Workshops, Sessions,
Diskussionen und Filmvorführungen, sowie auch politische Informationen
und Aktionen. Das Konzept bricht die zumeist vorherrschende Konsumhaltung
auf, indem es Möglichkeiten der aktiven Teilnahme bietet. Es
fördert reflektierende Auseinandersetzungen und kritisches
Engagement, wobei es gleichzeitig der hedonistischen und kreativen
Entfaltung einen großen Raum gibt.
Das Connecta-Konzept spiegelt sich in den aktuellen „Gathering
of the Tribes“-Festivals, die wiederum auf eine vielschichtige
Tradition zurückblicken. Im Grunde zieht sich die Idee der
Stammestreffen durch alle Zeiten. Sie reicht von den Treffen der
ursprünglichen indigenen Stämme über die psychedelischen
Gatherings der Hippies bis zu den gegenkulturellen Events der Cybertribes.
DIE STERNE SIND ERREICHBAR
Das „Gathering of the Tribes“ in Frankfurt am Main begann
2005 als jährliches Goa-Festival und verkörperte dabei
die kreativen Seiten der Szene wie auch deren Stagnation. Nach zwei
Jahren öffnete es sich und knüpfte an die „Join
the Cybertribe“-Festivals an, die Jahre zuvor im Mainzer Signalwerk
im Sinne des Connecta-Konzeptes stattgefunden hatten. Hinsichtlich
seiner Entwicklung kann das Gathering beispielhaft für eine
innovative Perspektive der Psy-Trance-Szene sein.
Zum Programm der Gatherings gehörten Podiumsgespräche
zu den Wurzeln der psychedelischen Kultur und zum Verhältnis
von Party und Politik. Angeregt wurden dadurch notwendige Diskussionen,
die ansonsten auch in alternativen Party-Szenen kaum stattfinden.
Weitere wesentliche Bestandteile waren ein Kinderfest am Nachmittag
und die Vorstellungen von Cybertribe-Projekten, welche die sonst
auf Festivals übliche Fokussierung auf DJs aufbrachen.
Das meist von den Space Frogz konzipierte Musikprogramm beinhaltete
neben Psy-Trance-DJs und Electro-Acts auch politische Rock-Bands
und experimentelle Ambient-Projekte. Der Playground bot im Sinne
von „Be your own live-act!“ offene Trommel- und Jonglage-Sessions
an. Ausstellungen zeigten Fotos von Reclaim-the-Streets-Aktionen,
daneben informierten Video-Dokumentationen über Hausbesetzungen
und den Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung. Workshops
wurden unter anderem zu den Bereichen Trance-Tanz und Meditation
angeboten. Zudem gab es Angebote zur Förderung von Drogenmündigkeit,
die durch das Alice-Project koordiniert wurden.
Die Verbindung von „Music, Mind and Politics“ rundete
eine spontane Nacht-Tanz-Demonstration mit mobilen Soundsystemen
durch die Frankfurter Innenstadt ab. Unter dem Motto „Free
Tibet - No Gods, No Masters!“ richtete sie sich gegen diktatorische
Herrschaftssysteme genauso wie gegen feudal-religiöse Weltbilder.
Die Gatherings der Cybertribes in ihren vielfältigen Ausprägungen
zeigen deutlich, was alles möglich ist, wenn Freiräume
eröffnet werden, die sich nicht länger auf eine Szene
beschränken, sondern sich als Ausdruck einer vielfältigen
Kultur der Veränderung verstehen. Die symbolhaften Sterne werden
in diesem Sinne erreichbar, wenn es gelingt, die Vision einer anderen
Welt in der Realität der Gegenwart zu leben.
www.sterneck.net
- * -
Aus: Tom Rom und Pascal Querner (Hg.):
GOA – 20 Jahre Psychedelic Trance (2010)
www.nachtschatten.ch/goabook
|