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Wolfgang Sterneck
ALICE TANZT FÜR EIN FREIES WUNDERLAND
- DIE ABENTEUER VON ALICE
- LEWIS CARROLL UND DIE INNEREN GEFÄNGNISSE
- ALICE GEHT IHREN EIGENEN WEG
- ALICE UND DIE DROGEN
- DIE PSYCHEDELISCHE ALICE
ALICE TANZT FÜR EIN FREIES WUNDERLAND
Wie die Fantasie auf unterschiedlichen Ebenen Freiräume schafft,
die zur gelebten Realität werden können, zeigt ’Alice
im Wunderland’.
DIE ABENTEUER VON ALICE
Längst zählt ’Alice im Wunderland’ weltweit
zu den populärsten Erzählungen. Auf ihrer Reise durch
eine andere Wirklichkeit begegnet Alice skurrilen Gestalten und
macht vielfältige aufbrechende Erfahrungen.
So kommt Alice unter anderem zur Erkenntnis, dass es sinnvoller
ist, dreihundertvierundsechzig Mal im Jahr den Nichtgeburtstag zu
feiern, anstatt nur einmal den eigenen Geburtstag. Sie begegnet
einer Katze, die sich in Luft auflöst bis nur noch ihr Lächeln
zu sehen ist, und dem Hutmacher, der ihr erklärt, dass die
Zeit niemanden gehört. Zudem macht Alice bewusstseinsverändernde
Erfahrungen mit einem Pilz, durchquert einen Tränensee und
widersetzt sich der wahnhaften Königin.
Charles Dodgson veröffentlichte ’Alice’s Adventures
in Wonderland’ erstmals 1865 unter dem Pseudonym Lewis Carroll.
Die Urversion erzählte Dodgson Jahre zuvor einigen Kinder während
eines Sommerausfluges. 1871 folgte ’Through the Looking-Glass,
and What Alice Found There’ (’Alice hinter den Spiegeln’).
Die prägenden Illustrationen stammen jeweils von John Tenniel.
Immer wieder wurde ’Alice im Wunderland’ auf kreative
Weise neu interpretiert und weiterentwickelt, aber auch kommerziell
ausgeschlachtet. Veröffentlicht wurden unter anderem Computer
Games, Manga-Comics und zahlreiche Spielfilme. Alice-Motive finden
sich gleichermaßen in Überraschungseiern wie auf Briefmarken,
LSD-Trips und Stencils. MusikerInnen wie Grace Slick, Tom Waits,
Marilyn Manson und Randy Greif haben die Abenteuer jeweils eigenwillig
umgesetzt. Anspielungen tauchen in Schriften des Revolutionärs
Subcomandante Marcos genauso auf, wie in der wegweisenden Zeichentrickserie
Simpsons oder in Veröffentlichungen, die Physik und Philosophie
miteinander verbinden.
LEWIS CARROLL UND DIE INNEREN GEFÄNGNISSE
Charles Dodgson (1832-1898) verkörperte als Person in einigen
wesentlichen Aspekten die Widersprüche der Viktorianischen
Epoche in Großbritannien. Er stand in seinen autoritären
Charakterzügen für ein puritanisches, von extremen sozialen
Missständen geprägtes System, das den Menschen kaum Raum
für eine individuelle Entfaltung gab.
Als Mathematik-Tutor im Christ Church College in Oxford funktionierte
er in diesem System und wirkte als dessen penibler Vertreter. Gleichzeitig
flüchtete er in seiner gespalteten Persönlichkeit als
Lewis Carroll in ein fantasievolles Wunderland mit dem er unbewusst
die damalige Gesellschaftsordnung in Frage stellte.
Dodgson litt beständig unter psychosomatischen Erkrankungen,
die sich als Folge eines völlig eingeengten Lebenslaufes verstehen
lassen. Die fehlende Erfahrung zwischenmenschlicher Nähe und
die völlige Tabuisierung sexueller Empfindungen führten
zu einer pädophilen Deformierung seiner sexuellen Bedürfnisse.
Es bestehen jedoch keine Belege, die zeigen, dass Dodgson über
seine Fantasien hinaus zum handelnden Täter wurde.
ALICE GEHT IHREN EIGENEN WEG
Die verschiedenen künstlerischen Interpretationen von ’Alice
im Wunderland’ bildeten lange vorwiegend die vorherrschenden
Werte der Zeit ab. So entsprechen beispielsweise die Alice-Veröffentlichungen
aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Darstellung
einer braven, biederen Alice den gesellschaftlichen Vorgaben. Auch
die bis heute prägende Walt-Disney-Filmversion von 1951 zeichnet
trotz ihrer aufbrechenden, fantasievollen Ausrichtung das Bild einer
kantenlosen Alice, die auch äußerlich dem Ideal der weißen
US-amerikanischen Mittelschicht entsprach.
Alice hat sich jedoch inzwischen längst emanzipiert und neue
Wege eingeschlagen. Über die Jahrzehnte hinweg haben die Geschichten
aus dem Wunderland als Teil der populären Kultur ein Eigenleben
entfaltet. So taucht nun immer wieder eine selbstbewusste Alice
auf, die sich den vorgegebenen Konventionen verweigert und auf ihre
Weise ein freies Wunderland gestaltet. Andere Interpretationen zeigen
allerdings auch eine moderne Alice, die versucht sich im Wunderland
des Konsums und des Profits zu behaupten, aber letztlich scheitert.
Entsprechend decken auch die Beiträge für das internationale
Kunstprojekt ’Alice in a different Wonderland’ ein breites
Spektrum ab. Neben verträumten und psychedelischen Visionen
finden sich Darstellungen eines düster beklemmenden Wunderlandes,
sowie einer subversiven Alice. Die Initiative ging von Alice-Project
aus, das informierend und beratend im Drogenbereich tätig
ist. Daneben ist es an soziokulturellen Aktivitäten beteiligt,
bei denen die Schaffung von kreativen und solidarischen Freiräumen
eine besondere Rolle einnimmt. Einige Kunst-Beiträge, sowie
vielfältige Hintergrundinfos stehen im Rahmen einer Broschüre
online als Free-Download unter: www.alice-project.de/free .
Wer Alice wirklich verstehen will, hält sich ohnehin nicht
den Buchstaben getreu an die Buchversion, sondern öffnet sich
der eigenen Fantasie. Diese wird dann immer auch zu einem persönlichen
Spiegel. Letztlich geht es im Sinne von Alice darum, diesen zu durchschreiten.
Wer darüber hinausgehend Alice kennen lernen will, begibt sich
mit ihr auf die Straßen, löst sich von den Fesseln der
vorgegebenen Wirklichkeit und beginnt ein anderes, ein freies Wunderland
zu gestalten. Wohl wissend, dass in Anbetracht ökologischer
Zerstörung, globalisierter Ausbeutung und religiösem Fanatismus
dieses Wunderland nur ansatzweise in Freiräumen zur Wirklichkeit
werden kann.
ALICE UND DIE DROGEN
’Alice im Wunderland’ gehört nicht nur zu den herausragenden
Kinderbüchern der Weltliteratur, sondern wurde auch zu einem
psychedelischen Klassiker. Viele Passagen aus denn beiden Alice-Büchern
erinnern zumindest aus heutiger Sicht an Erfahrungen mit psychoaktiven
Substanzen, auch wenn dies von Charles Dodgson nicht durchgängig
beabsichtigt war.
So verändert sich in einer Szene die Wahrnehmung von Alice
nachdem sie eine ihr unbekannte, psychedelisch wirkende Flüssigkeit
getrunken hat. Die ’verrückte Teegesellschaft’
wirkt in ihrem absurden Verhalten zum Teil sehr alkoholisiert. Und
das Wettrennen, in dessen Verlauf Alice trotz größter
Anstrengungen auf der Stelle stehen bleibt, liest sich wie eine
prophetische Parabel über leistungssteigernde Substanzen im
Zeitalter des neoliberalen Konkurrenzdenkens.
An manchen Stellen bedarf es nicht einmal einer phantasievollen
Assoziation. Vielmehr ist der Zusammenhang offensichtlich, auch
wenn er bis in die heutige Zeit von einigen LiteraturwissenschaftlerInnen
bestritten wird. Herausragend ist in dieser Hinsicht das Kapitel,
in dem Alice an einem psychoaktiven Pilz knabbert. In Folge hat
sie den Eindruck, dass sie ihre Größe ständig verändert
und ist entsprechend verunsichert. Der Pilz war ihr zuvor von einer
Raupe empfohlen worden, die ständig an einer Wasserpfeife zieht.
Das äußerst entspannte Auftreten der Raupe lässt
vermuten, dass sie Haschisch raucht.
Von Dodgson selbst ist bekannt, dass er insbesondere gegen seine
Depressionen und Migräneanfälle ein Cannabis-haltiges
Medikament, sowie die Opium-Tinktur Laudanum einnahm. Zudem trank
Dodgson regelmäßig Wein. Ob er Erfahrungen mit psychoaktiven
Pilzen hatte, ist nicht bekannt. Es liegt jedoch nahe, dass Dodgson
über das bewusstseinsverändernde Potential einiger Pilzarten
Kenntnis hatte.
DIE PSYCHEDELISCHE ALICE
In den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts erlangten
die Abenteuer von Alice in der psychedelischen Bewegung eine neue
Popularität. Deren Angehörige verweigerten sich den Konventionen
der bürgerlichen Gesellschaft und experimentierten mit alternativen,
gemeinschaftlichen Lebensmodellen. Der Gebrauch bewusstseinsverändernder
Substanzen nahm dabei eine besondere Rolle ein.
Die Erfahrungen von Alice im Wunderland bzw. Zitate aus dem Buch
wie ’Follow the White Rabbitt’ und ’Feed your
Head’ wurden zu Kodes für bewusstseinserweiternde Erfahrungen
mit psychedelischen Substanzen wie LSD, Meskalin und Psilocybin.
In diesem Zusammenhang wirkt es wie ein Augenzwinkern der Historie,
dass ’Alice’s Adventures in Wonderland’ am 16.
April 1865 veröffentlicht wurde und Albert Hofmann 78 Jahre
später ebenfalls am 16. April die psychedelische Wirkung von
LSD entdeckte.
Gerade in der Hochphase der Hippie-Kultur wurde jedoch oft ignoriert,
dass Psychedelika gleichermaßen Potentiale und Visionen wie
auch innere Abgründe eröffnen können. In den Alice-Büchern
findet diese Vielschichtigkeit allerdings eine parabelhafte Entsprechung.
Das Wunderland ist keineswegs eine konfliktfreie bunte Welt. Vielmehr
stehen neben unterhaltsamen, anregenden und erweiternden Erfahrungen
auch Konfrontationen mit Angst, Paranoia und Gewalt. Immer wieder
begegnet Alice Figuren, die ihr neue Ansichten eröffnen, aber
auch Figuren, die in ihren eigenen Welten gefangen sind.
Wie kaum eine andere Darstellung symbolisiert die Szene, in der
Alice einen Spiegel durchschreitet, den Übergang in eine andere
Wirklichkeit. Der Spiegel führt dabei letztlich in eine Welt,
die sie bereits in sich trägt. Ebenso tragen auch Psychedelika
im Wesentlichen nichts von außen in eine Person hinein, sondern
öffnen Türen in bereits bestehende innere Räume.
Wie sich diese Räume im Einzelnen gestalten, liegt wechselwirkend
an den umgebenden Bedingungen, sowie insbesondere an der entsprechenden
Person selbst.
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